Achtzehntes Kapitel.

[151] Am andern Morgen, als Frau Odinzoff zum Tee kam, saß Bazaroff lange über seine Tasse geneigt da; dann plötzlich heftete er die Augen auf sie ... sie wandte sich gegen ihn, als ob er sie gestoßen hätte, und er glaubte zu bemerken, daß sie noch bleicher sei als tags zuvor. Er ging bald auf sein Zimmer zurück und zeigte sich erst wieder beim Frühstück. Der Vormittag war regnerisch. Die ganze Gesellschaft war im Salon beisammen. Arkad nahm die neueste Nummer einer Revue und las laut vor. Die Fürstin, nach ihrer Gewohnheit, schien darüber erst höchlich erstaunt, als ob er etwas sehr Unschickliches begangen hätte; dann maß sie ihn mit bösen Blicken, was er aber nicht beachtete.

»Eugen Wassilitsch,« sagte Frau Odinzoff, »kommen Sie auf mein Zimmer ... Ich möchte Sie fragen ... Sie haben mir gestern den Titel eines Werkes genannt ...«

Sie erhob sich und ging nach der Türe. Die Fürstin blickte rund umher, und in ihrem Gesicht stand deutlich geschrieben: »Seht, seht, wie ich darüber erstaune!« Sie blickte Arkad wiederholt an, aber er wechselte einen raschen Blick mit Katia, die neben ihm saß, und las mit erhobener Stimme weiter. Frau Odinzoff ging raschen Schrittes nach ihrem Zimmer. Bazaroff folgte ihr, ohne die Augen aufzuschlagen, und hörte das leichte Rauschen der seidenen Robe, die vor ihm hinglitt. Anna Sergejewna setzte sich in denselben Sessel wie tags zuvor, und Bazaroff nahm auch den gleichen Platz wieder ein.

»Wie nannten Sie das Buch? ...« sagte sie nach einem Augenblicke Schweigen.[152]

»Pelouse und Fremy, Anfangsgründe,« antwortete Bazaroff. »Übrigens kann ich Ihnen auch noch Ganots ›Handbuch der Experimentalphysik‹ empfehlen; die Zeichnungen sind detaillierter, und das Buch ist im ganzen ...«

»Entschuldigen Sie, Eugen Wassilitsch,« sagte Frau Odinzoff und streckte die Hand aus; »ich habe Sie nicht hierher eingeladen, um über Handbücher zu reden. Ich möchte unsere Unterredung wieder aufnehmen. Sie haben mich so rasch verlassen ... es wird Ihnen doch nicht langweilig sein?«

»Ich stehe zu Dienst ... aber wovon sprachen wir doch gestern abend?«

Frau Odinzoff sah Bazaroff ein wenig von unten herauf an.

»Ich glaube,« sagte sie, »wir sprachen vom Glück. Ich unterhielt Sie von mir. Aber weil ich eben das Wort Glück gebraucht habe, muß ich Ihnen eine Frage vorlegen. Warum, selbst wenn wir z.B. den Genuß einer Musik, eines schönen Abends, einer Unterhaltung mit irgend jemand, der uns sympathisch ist, gehabt haben, warum scheint uns dieser Genuß vielmehr eine Andeutung irgendeines unbekannten Glücks, das sich irgendwo findet, als ein wirkliches Glück, ein Glück, das wir selber genießen? Antworten Sie mir ... aber möglicherweise haben Sie ein ähnliches Gefühl noch gar nicht gehabt.«

»Sie kennen das Sprichwort: ›Uns ist es nur da wohl, wo wir nicht sind‹,« antwortete Bazaroff; »übrigens haben Sie mir gestern selbst gesagt, daß Sie sich unbefriedigt fühlen. Auch ist es sehr wahr, daß mir dergleichen Gedanken nie in den Sinn kommen.«

»Sie erscheinen Ihnen vielleicht lächerlich?«[153]

»Das nicht, aber sie sind mir nie in den Kopf gekommen.«

»Wirklich? ich möchte wohl wissen, an was Sie denken?«

»Wieso? ich verstehe Sie nicht.«

»Hören Sie; längst schon wünschte ich, mich mit Ihnen auszusprechen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Sie kein gewöhnlicher Mensch sind, Sie wissen es sehr gut. In Ihrem Alter hat man noch einen langen Weg vor sich. Auf was bereiten Sie sich vor? welche Zukunft erwartet Sie? auf welches Ziel steuern Sie los? wohin gehen Sie? was haben Sie auf dem Herzen? mit einem Wort, wer sind Sie, und was sind Sie?«

»Sie setzen mich in Erstaunen, Madame, Sie wissen ja, daß ich mich mit den Naturwissenschaften beschäftige; und was meine Person betrifft ...«

»Ja, wer sind Sie?«

»Ich habe bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß ich ein künftiger Distriktsarzt bin.«

Frau Odinzoff machte ein Zeichen von Ungeduld.

»Warum sprechen Sie so mit mir?« sagte sie; »Sie glauben selber nicht an das, was Sie sagen. Arkad hätte mir so antworten können, aber Sie?«

»Aber worin ist Arkad ...«

»Gehen Sie doch; ist es möglich, daß ein so bescheidener Wirkungskreis Sie befriedigen kann? Gestehen Sie nicht selber, daß Sie nicht an die Medizin glauben? Ein Distriktsarzt? Sie! mit Ihrem Selbstgefühl! Sie antworten mir nur so, um meiner Frage auszuweichen. Ich flöße Ihnen kein Vertrauen ein, doch, Eugen Wassilitsch, darf ich Sie versichern, daß ich Sie zu verstehen vermocht hätte; ich war selber arm und voll Selbstgefühl wie Sie;[154] ich habe vielleicht dieselben Prüfungen durchgemacht wie Sie.«

»Das alles ist sehr schön, Anna Sergejewna, aber Sie müssen entschuldigen ... ich bin nicht gewöhnt, andern mein Herz zu erschließen, und zudem ist zwischen uns beiden eine solche Kluft ...«

»Gehen Sie! wollen Sie mir noch einmal sagen, daß ich eine Aristokratin bin! Ich glaube Ihnen bewiesen zu haben ...«

»Außerdem«, erwiderte Bazaroff, »begreife ich das Vergnügen nicht, welches man darin finden kann, von der Zukunft zu sprechen, die im allgemeinen nicht von uns abhängt. Zeigt sich eine Gelegenheit, etwas zu leisten, um so besser, im andern Falle wird man sich wenigstens sehr glücklich schätzen, sich keinem unnützen Geschwätz hingegeben zu haben.«

»Sie nennen freundschaftliches Geplauder Geschwätz ... Nach allem halten Sie mich vielleicht als Weib Ihres Vertrauens nicht würdig? Sie haben eine geringe Meinung von unserem Geschlecht!«

»Ich habe keine geringe Meinung von Ihnen, Anna Sergejewna, und Sie wissen das sehr gut.«

»Nein, ich weiß nichts ...; aber gesetzt, es wäre so. Ich begreife, daß Sie nicht von Ihrer Zukunft sprechen wollen; aber das, was heute in Ihnen vorgeht ...«

»Vorgeht?« wiederholte Bazaroff, »bin ich zufällig ein Staat oder eine Gesellschaft! Jedenfalls scheint mir das nicht sehr interessant; und zudem, soll denn jeder von uns laut verkünden, was in ihm ›vorgeht‹?«

»Ich wüßte in der Tat nicht, warum man nicht alles, was man auf dem Herzen hat, gestehen sollte?«[155]

»Könnten Sie das?«

»Ja,« antwortete Frau Odinzoff nach kurzem Besinnen.

Bazaroff verneigte sich.

»Sie sind glücklicher als ich,« sagte er.

Anna Sergejewna sah ihn an, als ob sie eine Erklärung von ihm fordern wollte.

»Sie haben gut reden,« erwiderte sie, »aber ich fühle mich darum nicht weniger geneigt, zu glauben, daß wir uns nicht umsonst begegnet sind, daß wir gute Freunde sein werden. Ich bin gewiß, daß Ihre, wie soll ich sagen, – Ihre Starrheit, Ihre Verschlossenheit auf die Dauer schwinden wird.«

»Sie finden mich also verschlossen ... oder wie doch? starr.«

»Ja.«

Bazaroff stand auf und trat ans Fenster.

»Und Sie wollen die Beweggründe dieser Verschlossenheit kennen lernen, Sie möchten wissen, was in mir vorgeht?«

»Ja,« antwortete Frau Odinzoff mit einem Schrecken, über den sie sich noch keine Rechenschaft gab.

»Und Sie wollen nicht böse werden?«

»Nein!«

»Nein?« Bazaroff drehte ihr den Rücken. – »So wissen Sie denn, daß ich Sie unvernünftig, bis zum Wahnsinn liebe ... das ists, was Sie mich Ihnen zu sagen zwingen.«

Frau Odinzoff streckte die Hände aus, und Bazaroff drückte seine Stirne an die Fensterscheibe. Er erstickte fast, ein krampfhaftes Zittern durchlief alle seine Glieder, aber es war weder die Aufregung, wie sie die Schüchternheit der Jugend hervorruft, noch der süße Schrecken, den[156] eine erste Liebeserklärung erzeugt; es war die Leidenschaft, die in ihm kämpfte, jene starke, drückende Leidenschaft, die der Bosheit gleicht und vielleicht nicht weit davon entfernt ist ... Frau Odinzoff empfand Furcht und Mitleid zugleich.

»Eugen Wassilitsch!« sagte sie, und in ihrer Stimme verriet sich eine unwillkürliche Zärtlichkeit.

Er kehrte sich rasch um, warf ihr einen verzehrenden Blick zu und zog sie, ihre beiden Hände mit Macht ergreifend, an seine Brust.

Sie konnte sich ihm nicht sogleich entwinden ... Einige Augenblicke nachher hatte sie sich in die entlegenste Ecke des Zimmers geflüchtet. Er stürzte auf sie los ...

»Sie haben mich nicht verstanden!« stieß sie mit leiser, vor Schreck erstarrter Stimme hervor. Einen Schritt weiter, und sie hätte wahrscheinlich einen Schrei ausgestoßen; ihre ganze Haltung kündete es an. Bazaroff biß sich in die Lippen und verließ das Zimmer.

Eine halbe Stunde später übergab ein Stubenmädchen Anna Sergejewna ein Billett von Bazaroff. Es enthielt nur eine Zeile: »Muß ich heute noch abreisen, oder kann ich bis morgen bleiben?« Frau Odinzoff antwortete: »Warum abreisen? ich habe Sie nicht verstanden, und Sie haben mich nicht verstanden.« Indem sie diese Worte schrieb, sagte sie zu sich: »Ich habe mich in der Tat selber nicht verstanden.«

Sie zeigte sich erst beim Mittagessen wieder und ging den ganzen Morgen mit gekreuzten Armen in ihrem Zimmer auf und ab, blieb von Zeit zu Zeit bald vor dem Spiegel, bald vor dem Fenster stehen und strich beständig mit einem Taschentuch über den Hals; sie glaubte da einen glühenden[157] Flecken zu spüren. Sie fragte sich, warum sie Bazaroff, wie er selbst sagte, »gezwungen« habe, sich zu erklären, und ob sie es nicht schon längst geahnt habe ... »Ich bin schuldig,« sagte sie mit lauter Stimme, »aber ich kann ja das alles nicht vorhersehen.« Sie wurde nachdenklich und errötete in der Erinnerung an den beinahe wilden Ausdruck, den Bazaroffs Gesicht angenommen hatte, als er auf sie losstürzte. »Oder doch ...« sagte sie plötzlich wieder, indem sie stehenblieb und ihre Locken schüttelte. Als sie im Spiegel den leicht zurückgesunkenen Kopf, das geheimnisvolle Lächeln in den halbgeschlossenen Augen und auf den halboffenen Lippen bemerkte, schien ihr das Bild etwas zu sagen, was sie tief bewegte.

»Nein, nein,« sagte sie endlich, »Gott weiß, wohin das führen würde; mit dergleichen soll man nicht spaßen. Die Ruhe ist doch noch das Beste, was es auf der Welt gibt.«

Ihre Ruhe war nicht gestört, aber sie wurde traurig und vergoß sogar einige Tränen, ohne recht zu wissen warum. Es war nicht Scham über die Demütigung, was sie weinen machte, sie fühlte sich nicht einmal gedemütigt, sie fühlte sich vielmehr schuldig. Unter dem Einfluß verschiedener unklarer Gefühle, des Bewußtseins ihres verrauschenden Lebens und des Verlangens nach etwas Neuem war sie bis an eine gewisse Grenze vorgegangen, und als sie über diese hinaus noch einen Blick warf, hatte sie drüben zwar keinen Abgrund, aber die Leere oder die Häßlichkeit gewahrt.

Quelle:
Turgenjeff, Iwan: Väter und Söhne. Leipzig [1911], S. 151-158.
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