42. Schäferin Hannchen

[285] 1. Mai 1790.


Ich bin nur Schäferin Hannchen,

Nicht häßlich und nicht schön;

Doch schwerlich tauscht' ich mit manchen,

Die stolz ihr Köpfchen drehn.

Laß manche prunken und scheinen:

Ich schmücke mich nur leicht

Mit selbstgesponnenen Leinen,

Geblümt und hell gebleicht.


Wann Tau am Grase noch blitzet,

Treib' ich, weil Hurtig bellt,

Vom Halmenhute beschützet,

Des Vaters Herd' ins Feld.

Die Schäfchen blöken und grasen,

Wo Klee und Quendel blüht:

Ich strick' auf schattigem Rasen,

Und sing' ein Schäferlied.


Am Mittag deck' ich zum Mahle

Den Rasen, weich und fein,

Mit Spillbaumlöffel und Schale,

Und schmause ganz allein.

Die Mutter füllte die Taschen

Mit reifer Gartenfrucht,

Und Felderdbeeren zum Naschen

Glühn ringsher ungesucht.


Von Kräutern, Büschen und Bäumen

Ertönet um und um

Gesang der Vögel und Heimen,

Des Bienenvolks Gesumm.[286]

Oft flecht' ich Blumen zum Kranze,

Und spiegle mich als Braut

Am Quell im zitternden Glanze,

Und sinn', und lache laut.


Auch macht mein Lämmchen mir Freude:

Es folgt mir, wie am Band,

Empfängt die blumige Weide,

Und lecket mir die Hand.

Doch wird ein Nestchen gefunden

Im dichtbelaubten Strauch,

Dann seufz' ich: Einsame Stunden!

O baut' ich selber auch!


Wie manchen Abend, wie manchen

Sieht Robert übern Zaun,

Und grüßt so freundlich: Mein Hannchen,

Schlaf wohl, laß dir nicht graun!

Errötend treib' ich die Schafe,

Und blicke vor mich hin;

Dann ist er Schäfer im Schlafe,

Und ich bin Schäferin.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 285-287.
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