Erste Szene

[321] STIMME EINES JUNGEN SEEMANNES aus der Höhe, wie vom Mast her, vernehmbar.

Westwärts

schweift der Blick;

ostwärts

streicht das Schiff.

Frisch weht der Wind

der Heimat zu:

mein irisch Kind,

wo weilest du?

Sind's deiner Seufzer Wehen,

die mir die Segel blähen?

Wehe, wehe, du Wind!

Weh, ach wehe, mein Kind!

Irische Maid,

du wilde, minnige Maid!

ISOLDE jäh auffahrend.

Wer wagt mich zu höhnen?


Sie blickt verstört um sich.


Brangäne, du?

Sag – wo sind wir?

BRANGÄNE an der Öffnung.

Blaue Streifen

stiegen im Westen auf;

sanft und schnell

segelt das Schiff:

auf ruhiger See vor Abend

erreichen wir sicher das Land.[321]

ISOLDE.

Welches Land?

BRANGÄNE.

Kornwalls grünen Strand.

ISOLDE.

Nimmermehr!

Nicht heut noch morgen!

BRANGÄNE läßt den Vorhang zufallen und eilt bestürzt zu Isolde.

Was hör ich! Herrin! Ha!

ISOLDE wild vor sich hin.

Entartet Geschlecht!

Unwert der Ahnen!

Wohin, Mutter,

vergabst du die Macht

über Meer und Sturm zu gebieten?

O zahme Kunst

der Zauberin,

die nur Balsamtränke noch braut!

Erwache mir wieder,

kühne Gewalt;

herauf aus dem Busen,

wo du dich bargst!

Hört meinen Willen,

zagende Winde!

Heran zu Kampf

und Wettergetös!

Zu tobender Stürme

wütendem Wirbel!

Treibt aus dem Schlaf

dies träumende Meer,

weckt aus dem Grund

seine grollende Gier!

Zeigt ihm die Beute,

die ich ihm biete!

Zerschlag es, dies trotzige Schiff,

des zerschellten Trümmer verschling's!

Und was auf ihm lebt,

den wehenden Atem,

den laß ich euch Winden zum Lohn!

BRANGÄNE im äußersten Schreck um Isolde sich bemühend.

O weh!

Ach! Ach

des Übels, das ich geahnt!

Isolde Herrin!

Teures Herz!

Was bargst du mir so lang?

Nicht eine Träne[322]

weintest du Vater und Mutter;

kaum einen Gruß

den Bleibenden botest du.

Von der Heimat scheidend

kalt und stumm,

bleich und schweigend

auf der Fahrt;

ohne Nahrung,

ohne Schlaf;

starr und elend,

wild verstört:

wie ertrug ich,

so dich sehend,

nichts dir mehr zu sein,

fremd vor dir zu stehn?

O, nun melde,

was dich müht!

Sage, künde,

was dich quält!

Herrin Isolde!

trauteste Holde!

Soll sie wert sich dir wähnen,

vertraue nun Brangänen!

ISOLDE.

Luft! Luft!

Mir erstickt das Herz!

Öffne! Öffne dort weit!


Brangäne zieht eilig die Vorhänge in der Mitte auseinander.


Quelle:
Richard Wagner: Die Musikdramen. Hamburg 1971, S. 321-323.
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