Fragmente aus der Beschreibung der Reise des jüngeren Pytheas nach Thule

[319] (Aus dem Griechischen)


– – – Ich rede aber die Wahrheit, o Freunde, wenn schon sie auch unglaubhaft scheinen wird! Doch bedenket, daß in jenen rauhen Gegenden des Nordens die Natur selbst den Menschen durch unfreundliche Härte von sich zurückdrängt und ihn durch Versagungen zu mancherlei Erfindungen zwingt, um das Leben erträglicher zu machen! Wir bedürfen dessen in unserm Vaterlande nicht, wo die Natur gütiger gegen die Sterblichen ist, und wir während des Winters und Sommers im Freien wohnen, und was zur Fristung und Anmut des Daseins nötig ist, ohne Mühe gewinnen. Jene aber, die unter der Strenge eines halbjährigen Winters seufzen, müssen darauf sinnen, sich in geheizten Häusern einen künstlichen Sommer zu schaffen. Und weil sie von der Natur zurückgestoßen und auf sich selbst angewiesen sind, werden sie mehr, als wir, zur Beschäftigung des Geistes mit eiteln Träumen, schönen Entwürfen, die sie nie ausführen, und zur Erforschung alles Wissenswerten hingetrieben. Daher sind sie kenntnisreich und in allerlei Dingen vielwissend, die weder zur Weisheit, noch Glückseligkeit nützen, und schreiben große Bücher von nichtswürdigen Sachen, die bei uns weder geachtet, noch kaum dem Namen nach bekannt sind. Ja sie haben dafür besondere Schulen und Lehrstühle errichtet – –[319]

Aber die Witterung ist auf jener mitternächtlichen Seite der Welt so beschaffen, daß Wärme und Frost, Tage und Nächte von einem Äußersten zum andern Äußersten übergehen, daß kaum ein angenehmer Mittelzustand eintritt, welcher dem Geiste und dem Leibe zuträglich ist. Denn in ihren Sommern leiden sie eben so große Hitze, als in ihren Wintern tödlicher Kälte; eine Hälfte des Jahres haben ihre Tage fast die Länge von achtzehn Stunden und in der andern Hälfte kaum die Länge von sechs Stunden. Eben so unstet, ausschweifend und veränderlich wie ihre Witterung ist daselbst auch das Gemüt des Menschen. Festigkeit der Denkungsart und des Willens gebricht fast allen. Sie haben von Jahr zu Jahr neue Kleidertrachten, neue Dichtungen und neue Weltweisheiten. Diejenigen, welche gestern die Tyrannei stürzten, begeben sich, nachdem sie das Glück der Freiheit mit dem Munde priesen und mit dem Leben mißbrauchten, morgen freiwillig in die Knechtschaft zurück. – –

So herrscht bei jenen Barbaren die größte Ungleichheit in allen Dingen. Ein Teil des Volkes, aus wenigen Familien bestehend, besitzt jede Bequemlichkeit, den größten Reichtum, und schwelget im Überflusse; aber weitaus die Mehrheit ist arm und von der Gunst der Reichen in großer Abhängigkeit. Ebenso sind zwar einzelne im Besitze der Schätze des Wissens, aber die Menge des Volks lebt in der Finsternis der Unwissenheit. Sowohl Fürsten als Priester finden solche Unwissenheit für ihr eigenes Ansehen zuträglich und erhalten den Pöbel in derselben, welcher dazu ohnehin durch Armut und Trägheit geneigt ist. Daher liebt der Pöbel bei jenen Völkern die gewohnte Weise seiner Vorfahren in allen Gebräuchen, Einrichtungen und übrigen Dingen, welche den Geist betreffen, und ist nur in Sachen körperlichen Genusses zur Veränderlichkeit geneigt. Doch pflichtet er jeder Neuerung bei, sie möge gerecht oder ungerecht sein, wenn sie ihm Geld oder häuslichen Gewinn bringt. Denn Geld und erhitzendes Getränk geht bei jenen Barbaren über Gewohnheit, Ehre und Götterfurcht.[320]

Bei den Völkern in Thule ist die Freiheit unbekannt, und welche sie vor Zeiten besessen haben mögen, denen ist sie nach und nach, durch Gewalt und Schlauheit der Großen, genommen worden. Sie werden von Königen beherrscht, welche vorgeben, sie seien Söhne der Götter, und die Könige und ihre Satrapen werden eben so oft von Beischläferinnen oder Günstlingen beherrscht, als von ihren Ratgebern. Das Volk ist in erbliche Kasten geteilt, wie bei Indern und Ägyptern. Zur ersten Kaste gehören die Könige und ihre Kinder. Zur zweiten gehören die Großen, deren Kinder beim Kriegsheer und im Staat, auch beim Altar der Gottheiten die vornehmsten Ämter verwalten, ohne Rücksicht auf ihre Würdigkeit. Denn was unglaublich für uns ist, das ist bei jenen Barbaren ein Herkommen, daß die Kaste oder die Geburt höher geachtet wird, als alles andere Verdienst. In der dritten Kaste leben die geringen Beamten, die Handwerker, Kaufleute, gemeinen Krieger, die Hirten und Ackerleute, desgleichen die Künstler, Gelehrten und gemeinen Priester. In der vierten Kaste sind die Leibeigenen oder Sklaven, welche man wie Haustiere verkaufen oder verschenken kann. Bei einigen Völkerschaften, die ihre erste Rohheit schon zum Teil abgelegt haben, fehlt jedoch schon die vierte und letzte von den Kasten; eben so findet man einzelne Völkerschaften, wo gute Fürsten, welche die Gewalttätigkeit ihrer Großen erkannten, keine Gesetze anders, als mit Zustimmung eines, aus den verschiedenen Kasten des Volks gewählten Senats geben.

Die Könige in den Ländern von Thule leben untereinander in fast immerwährender Feindschaft. Die Schwächern sind nur sicher durch den gegenseitigem Neid der Stärkern. Wo aber die Stärkern solche Eifersucht unter sich verlieren, fallen sie die schwächern Staaten, unter schlecht ersonnenen Vorwänden, mit Krieg an, und verteilen sie unter sich. Dafür lassen sie sich den Titel der Gerechten, der Väter des Vaterlandes, oder der Helden beilegen, wie denn dergleichen eitle Beinamen überall und[321] von jeher bei den Barbaren beliebt gewesen sind. So oft aber die untere Kaste in irgendeinem Lande von ihren bessern Einsichten Gebrauch macht und sich gegen die übermäßigen Vorzüge der obern Kasten auflehnt, so setzen alle Fürsten und höhern Kasten der übrigen Reiche ihre besondern Streitigkeiten beiseite und vereinigen sich zur Herstellung der vorigen Ordnung auf fremdem Boden, oft auf eine sehr uneigennützige Weise. Ein solcher Krieg wird bei den Barbaren immer als ein heiliger angesehen, weil sie glauben, daß die Könige und die Rangordnung der Kasten von den Göttern selbst eingesetzt worden seien.

Unter allen öffentlichen Ausgaben ist diejenige zur Unterhaltung der Pracht an den Höfen die größte, und nächst dieser ist die Ausgabe für das Heer, selbst in Friedenszeiten, die wichtigste. Für den Unterricht des Volks, für den Landbau und alles, was die Glückseligkeit der Menschen befördert, wird das wenigste ausgegeben. In den meisten Ländern von Thule, wo die gewerbetreibende Kaste die zahlreichsten Pflichten und die wenigsten Rechte hat, muß diese durch Abgaben fast allgemein den ganzen Aufwand und die Bedürfnisse des Gemeinwesens befriedigen.

Was die Religion dieser Barbaren betrifft, so behaupten sie alle, von einer und derselben zu sein, und alle rühmen sich ein und desselben Urhebers ihrer Lehre. Allein die Arten ihres Gottesdienstes sind mannigfaltig verschieden, so wie die Meinungen über die Person ihres Religionsstifters. Deswegen feinden sich die Parteien mit großer Erbitterung an; sie verfolgen und verachten sich. Im ganzen findet man bei allen Parteien vielen Aberglauben, den aber die Priester befördern. Vom höchsten Wesen haben sie unwürdige Vorstellungen, denn sie legen ihm sogar menschliche Leidenschaften bei. Und wenn die Könige ihre Völker gegeneinander in den Krieg führen, wird auf beiden Seiten den Priestern geheißen, das höchste Wesen anzurufen, die Gegner zu verderben. Nach erfochtenem Siege danken sie dem höchsten Wesen für das ihren Feinden gestiftete Verderben.[322]

Ihre meisten Geschichtsbücher verdienen kaum gelesen zu werden; denn dieselben enthalten gewöhnlich keine Nachrichten von den Nationen, sondern nur von ihren Königen und deren Heiraten, Erbfolgen, Kriegen und Gewalttaten. Die Namen der nützlichsten Erfinder und Wohltäter werden kaum erwähnt, aber die Namen der verwüstenden Feldherrn stehen überall voran, gleichsam als wenn diese die Wohltäter des menschlichen Geschlechts wären. Auch sind die Geschichte dieser Völker, wegen ihrer von den unsrigen abweichenden Sitten, schwer zu verstehen; denn bei ihnen ist weder zu allen Zeiten, noch auch zu einer und derselben Zeit in allen Ständen, einerlei Begriff von Ehre oder Tugend zu finden. In den höhern Kasten kann Unzucht, Ehebruch, Verschwendung, Spielwut, Mißbrauch der Gewalt löblich genannt werden, oder als anmutige Schwäche erscheinen; was in den untern Kasten, als Laster oder Verbrechen mit Tod und Kerker bestraft wird. Wider Betrug und Diebstahl hat das Gesetz für die untern Kasten die härtesten Strafen angedroht; wenn aber ein Großer mit Klugheit das Land betrügt, und sich auf Kosten seines Fürsten bereichert, wird er sehr häufig in Ehren erhöhet oder mit einem Gnadengehalt entlassen. Wie mit Tugenden und Lastern, wird es auch mit der Ehre gehalten. Die Mitglieder der oberen Kasten bedürfen keiner andern Ehre, als ihrer Geburt, um alle Vorzüge zu erlangen, und nur wenige aus den untern Kasten, und diese nur selten, können durch Tugenden dem Ansehen jener Günstlinge des Zufalls gleichkommen. Die Ehre aber, welche durch Zufall der Geburt entsteht, kann eben so zufällig durch ein bloßes Schimpfwort vernichtet werden. Der, welcher mit einem Wort die Ehre verletzt hat, und der, welchem sie verletzt worden ist, begegnen sich nach vorgeschriebenen Ordnungen wie Rasende mit Waffen, und suchen einander zu verwunden. Sobald nun eine Wunde oder der Tod beigebracht worden ist, gleichviel welchem von beiden, glauben sie aufrichtig, die Ehre sei wieder hergestellt.[323]

Übrigens haben die Barbaren miteinander gemein, daß sie insgesamt auf Gewinn erpicht sind, und dafür Leben und Tugend wagen. Es gehört zu den Seltenheiten, welche Erstaunen und Gelächter erregen, wenn einer für den andern unentgeltlich arbeitet, oder sein Hab und Gut dem Wohl des Gemeinwesens opfert. – Sie reden übrigens viel von edlen Gesinnungen und großmütigen Handlungen; doch sieht man dieselben nur auf den Schaubühnen unbespottet erscheinen. Die Einwohner von Thule gleichen fast alle den Schauspielern, und haben in der Kunst, etwas anderes vorzustellen, als sie sind, eine große Fertigkeit. Keiner von ihnen spricht leicht gegen andere so, wie er denkt. Daher nennen sie Menschenkenntnis die schwerste Kunst, und Lebensklugheit die höchste Weisheit.

Indessen können sie sich doch nicht so sehr verstellen, daß man nicht ihre Schalkheit oder Unbehilflichkeit erkennen sollte; denn da sie mit der menschlichen Vernunft beständig in Widerspruch stehen, anders lehren als handeln, anders empfinden als reden und zu ihren Zwecken oft die widersinnigsten Mittel wählen, wird ihre Roheit offenbar. Um zum Ackerbau zu ermuntern, belasten sie den Landmann mit den schwersten Abgaben und der größten Geringschätzung; um zu Verkehr und Handel anzuspornen, errichten sie zahlreiche Zollstätten und erlassen viele Warenverbote; um gefehlt habende Menschen zu strafen und zu verbessern, sperren sie dieselben in öffentliche Zwanghäuser zusammen, wo sie sich gegenseitig mit Lastern noch ärger vergiften, und von wo sie als vollendete Verbrecher in die menschliche Gesellschaft zurückkehren. Um ihres gesunden Leibes zu pflegen, verkehren sie die Ordnung des Lebens: einige wachen in der Nacht und schlafen am Tage; andere zerstören die Säfte ihres Lebens durch erhitzende Getränke und Gewürze, die sie für große Geldsummen aus Indien kommen lassen, so daß kaum eine arme Haushaltung zu finden ist, welche sich mit dem Ertrag ihres Feldes oder ihrer Herde begnügt,[324] ohne Getränke aus Arabien oder Gewürze aus Indien und Fische aus entfernten Meeren hinzuzutun. – – –

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 319-325.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ein Narr des Neunzehnten Jahrhunderts
Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon