[103] Hans Dampf

Die Nachricht von der Verhaftung des Staatsbaumeisters und vom Zorn des Fürsten von Luchsenstein, der ihn nur schlechtweg einen Hund genannt, verursachte in Lalenburg ein unglaubliches Aufsehen. Jedermann zerbrach sich den Kopf darüber, was Hans Dampf versündigt haben möchte. Ja, so groß war die Bestürzung, daß man sogar am Stadtschreiber nicht einmal den verlorenen, anderthalb Ellen langen Zopf vermißte.[103] Man sprach nur von Hans Dampf in allen Gassen und kein Mensch zweifelte an seiner bevorstehenden Hinrichtung. Einige vermuteten, er werde enthauptet, andere, er werde gehenkt, andere, er werde wenigstens lebendig verbrannt werden. Viele bedauerten, daß diese Feierlichkeiten nicht zu Lalenburg, sondern in der fürstlichen Residenz statthaben würden; andere hingegen freuten sich darüber, weil sie so mit gutem Anlaß und Vorwand die Residenz besuchen könnten. Mehrere redeten untereinander ab, die Reise dahin zur Ersparung der Kosten gemeinschaftlich zu machen. Alle Fuhrwerke und Pferde in der Stadt wurden noch selbigen Tags vorausbestellt und in Beschlag genommen. Man ließ die Schneider rufen und zu neuen Kleidern das Maß nehmen.

Inzwischen mischte sich doch bald auch in diese Betrachtungen und frohen Rüstungen das christliche Mitleiden, wenn man des Delinquenten gedachte, der nun seines Todes gewärtig im Kerker schmachtete. Hans Dampf, den jedermann kannte, der mehr oder weniger in jeder Haushaltung etwas zu schaffen gehabt hatte, Hans Dampf, den alle Mütter schalten und zum Eidam wünschten, den auf der Straße alle Mädchen über die Achsel ansahen, aber immer mit freundlichen Augen unter vier Augen – Hans Dampf, am Tische ein lustiger Zecher, im Rate ein trefflicher Redner, unter Basen und Muhmen beim Kaffee ein Erzklätscher, in der Kirche der eifrigste Beter – Hans Dampf, alles in allem, der Alkibiades von Lalenburg im Kerker!

Die stille Wehmut des Mitleidens ergriff zuerst die Töchter, dann die Mütter, dann die Männer. Kaum trat die Dunkelheit des Abends ein, schlich manche sittige Jungfrau, die sonst seine Blicke öffentlich zu fliehen und schon vor dem bloßen Namen eines unvermählten Mannes züchtig zu erröten pflegte, mit nassen Augen über die Gasse zum Gefängnis, dem »armen Sünder«, wie nun der edle Staatsbaumeister hieß, eine letzte Labung und Erquickung zuzustecken. Die eine kam mit Würsten,[104] die andere mit Zuckerwerk, die dritte mit kleinen Pasteten, die vierte mit Mandeln und Rosinen, und so jede.

»Ach, lieber gnädiger Himmel!« riefen die alten Weiber, die Dienstmägde, die Gassenbuben, welche dies bemerkten: »Sie bringen ihm schon die Henkersmahlzeit!« Und nun war unter der ganzen Bürgerschaft länger kein Haltens mehr. Denn diese Mahlzeit mit dem häßlichen Namen war eine alte lalenburgische Übung bei zum Tode verurteilten Missetätern. Einige Tage vor deren Hinrichtung pflegte man denselben an Eß- und Trinkwaren zu reichen, was sie wünschten und nicht wünschten. Da das Staatsgefängnis ebenen Bodens mit der Straße war und seine dickvergitterten Fenster gegen diese hinaus hatte, wo im Gitterwerk eine eigene Öffnung angebracht war, um Speisen einzureichen, denn die Kerkertür durfte keinem ohne hochobrigkeitliche Genehmigung geöffnet werden, wurde nun der Platz vor dem Gitterloch bis gegen Mitternacht von Gebern nicht leer. Brot und Backwerk allerart, Schinken, Würste, gebratene Gänse, Hühner, Enten, Tauben, Torten, Pasteten, Äpfel, Birnen usw. nebst Wein- und Bierkrügen, Likörfläschchen, Riechfläschchen usw. krochen durch das Loch. Die Krämer versorgten den armen Sünder sogar mit Salz, Pfeffer, Käse, Butter, Schnupf- und Rauchtabak, so daß der Staatsbaumeister in Gefahr geraten mußte, unter dem ungeheuren Vorrat, der immerfort hineingestopft wurde, zu ersticken. Er selbst ließ sich vor den menschenfreundlichen Gebern nicht sehen und antwortete nie auf ihre liebkosenden Trostreden. Doch sagte jedem das eigene Zartgefühl, Scham und Schmerz mache, daß er sich in die Dunkelheit zurückziehe.

Allein das Zartgefühl war diesmal im Irrtum und der Staatsbaumeister gar nicht im Staatsgefängnis. Als ihn um die Mittagsstunde der Platzmajor dahin geführt hatte, fand sich, daß das Staatsgefängnis zwar im besten Zustand sei, aber übel verwahrt. Die Tür konnte weder verschlossen noch verriegelt werden, weil Schloß und Riegel eingerostet am mürben Holz hingen.[105] Dies war aber nicht Folge einer Nachlässigkeit des löblichen Rates der Stadt und Republik, sondern eines vierzigjährigen Prozesses zwischen der Stadt und der Landschaft (nämlich den paar zu Lalenburg gehörigen Dörfern) über die Streitfrage, ob die Gefängnisse müßten von der Stadt unterhalten werden, welche das Recht zum Einkerkern hätte, oder von der Landschaft, deren Bewohner die Pflicht hätten, sich einsperren zu lassen? Denn daß ein Stadtsbürger ins Gefängnis gekommen, war seit Menschengedenken unerhört. Dieser Prozeß war vor dem großen Rat der Republik seit vierzig Jahren behandelt und noch unbeendet. Alle Jahre war zwischen den Vorstehern der Stadt und den Vorstehern der Landschaft deswegen ein Versöhnungsmahl auf sogenannte »ungerechte Kosten« veranstaltet worden, um dabei die streitführenden Parteien gütlich zu vergleichen. Weil aber bei derlei Vorstehern Wein und Braten des Versöhnungsmahls sehr gut schmeckte, kam die Versöhnung nie zustande, teils um nicht die Hoffnung zu einem künftigen neuen Schmaus zu verlieren, teils weil man immerfort auf Kosten des Unrechthabenden schmauste und keiner unrecht haben wollte.

Der Platzmajor hatte die kleinen Mängel an der Tür sogleich vermöge seines natürlichen Scharfblicks erkannt und die Tür statt zu verschließen auf der Stelle vernagelt, ja zu allem Überfluß noch durch den Stadtschreiber obrigkeitlich versiegeln lassen. Außerdem stand allezeit ein Stadtwächter mit der Partisane davor. Der Gefangene machte dem Wächter sogleich die triftige Frage, wie er als Gefangener sich in besonderen Fällen, die zur Leibes- und Lebensnotdurft gehören, zu verhalten habe? Dem Wächter fiel die Frage auf und schien ihm wichtig genug, deswegen dem Platzmajor und Stadtschreiber, die noch nicht weit entfernt waren, nachzulaufen und Verhaltungsbefehle einzuholen. Währenddem versuchte der Staatsbaumeister die Beschaffenheit der Tür, und weil auf der Stelle, wo sie nicht versiegelt und vernagelt war, die Türangeln beim ersten Druck[106] auf den wurmstichigen Pfosten wichen, ging er hinaus, rückte Tür und Angel wieder ein und begab sich zur Hinterpforte weg nach Hause, ohne bemerkt zu werden.

Der treue Wächter kam zurück und brachte den unbarmherzigen Befehl des Stadt- und Platzmajors, der Gefangene möge sich in solchen Fällen helfen, wie er könne. Die Schildwache äußerte darüber zugleich ihr aufrichtiges Mitleiden. Weil aber der Staatsgefangene dem Partisanenträger keine Silbe erwiderte, ungeachtet derselbe wohl eine Viertelstunde lang erzählte, tröstete und guten Rat gab, schwieg dieser endlich auch und begnügte sich, von Zeit zu Zeit Nagel und Siegel zu beobachten.

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 103-107.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Hans Dampf in allen Gassen
Hans Dampf in allen Gassen