Brüssel.

[42] Als ich hier wieder von Antwerpen zurück gekommen, wendete ich meine Zeit darauf, die Kirchen zu besuchen, weil ich vorher bloß das Schauspielhaus besucht hatte. Den Tag nach meiner Zwoten Ankunft ward in der kleinen, aber schönen und zierlichen Marie Magdalenenkirche eine Messe aufgeführt. Man findet hier einige wenige gute Gemählde, und vortrefliche Stucke Bildhauerarbeit in Holz. Die Bilder der Apostel sind an den Seiten dieser Kirche auf eine kühne Manier en relief oder medaillon vorgestellt. Das Orchester war heute nur schwach besetzt, die Orgel aber ward meisterhaft gespielt von Herrn Straze, den man in Brüssel für den besten Spieler auf[42] Clavierinstrumenten hält. Während des Hochamts spielten die Instrumentalisten einige Sinfonien recht gut. Die einigen Stücke von italiänischer Kirchenmusik, welche vorkamen, wurden zwar nicht so gut gesungen, als in ihrer Heymath, aber die Stimmen waren nichts weniger, als zu verachten. Zweene Knaben besonders trugen ein Duet sehr angenehm vor. Überhaupt genommen aber sind doch solche junge Sänger nicht fest genug, und es wäre also sehr zu wünschen, daß man in den Kirchen zu den Sopranstimmen Frauenzimmer zulassen möchte. Denn gemeiniglich wird doch für den Sopran am meisten gearbeitet, und die weiblichen Stimmen sind dauerhafter als die Stimmen der Knaben, welche fast immer die ihrige verlieren, ehe sie solche gut gebrauchen gelernt haben.

Aus dieser kleinen Kirche ging ich nach der Cathedrale St. Gudula, woselbst ebenfals die Hohemesse, aber von einer beträchtlichen Anzahl von Stimmen und Instrumenten aufgeführt ward. Dieses ist die grösseste Kirche in Brüssel; ihre Pfeiler sind zu plump, im Ganzen ist es aber ein schönes und edles Gebäu. Die besten Gemählde und einiges sehr schönes Tapetenwerk, waren heute, des Festes wegen, zur Schau gestellet, welche sonst an gewöhnlichen Tagen nicht zu sehen sind. Die Kirche ist übrigens fast mit zu häufigen Zierrathen überladen und zu dick vergüldet, welches der Fall mit den meisten brabandter Kirchen ist,[43] denn die Einwohner denken, sie können solche nicht genug schmücken.

Man findet in dieser Kirche noch vortrefliche alte Mahlereyen auf Glas, mit Figuren von Lebensgrösse, und recht gut conservirt. Sie sind von Rogiers, einem Zeitgenossen des Holbeins. Sie sind von verschiedenen fürstlichen Personen der damaligen Zeiten geschenkt, besonders von König Juan von Portugal, Marie, Königinn von Ungarn, Franz dem Ersten, König von Frankreich, Ferdinand, Bruder Kayser Carl des Fünften, und von Carl dem Fünften selbst.

Der Maestro di Capella, der hier die Musik dirigirte, war Herr von Selmont. Die Musik that keine grosse Wirkung, weil für ein so grosses Gebäude zu wenig Instrumente waren. Es war aber ein Tenorist dabey, der einige lateinische Moteten, von einem italiänischen Meister komponirt, recht gut sang. Seine Stimme war gut und er hielt Ton. Die Singart in den Kirchen hier ist weniger Französisch als auf dem Theater, denn die Texte sind beständig lateinisch, und sind also der Stimme und dem Geschmacke des Sängers nicht so sehr entgegen, als französische Texte und französische Musik.

Des Abends hörte ich zwey musikalische Schauspiele in flämischer Sprache. Beyde waren aus dem Französischen übersetzt; das eine war le Tonnelier, ursprünglich von Duny in Musik gesetzt und das zweyte Toinon & Toinette komponirt von Gossec. Die Niederländer schienen grossen[44] Gefallen daran zu finden, und als dramatische Stücke haben solche im Original viel Verdienst. Gossec's und Duni's Kompositions waren beybehalten, ausgenommen einige wenige Stellen, welche Fitzthumb der flämischen Übersetzung zugefallen geändert hatte.

Bey Anhörung dieser Stücke drängte sich mir die Betrachtung zu, wie leicht es sey, italiänische Musik an an jede Musik zu schmiegen, sie mag so rauh und barbarisch seyn, als sie will. Die Komposition der beyden gedachten Stücke ist ganz sichtbarlich von italiänischen Arien und Sinfonien genommen, obgleich über französische Worte gezwängt. Alle gegenwärtige Komponisten von französischen komischen Opern, imitiren den italiänischen Styl, und viele von ihnen plündern die italiänischen Opere buffe ohne alle Gewissenhaftigkeit, ob sie gleich hernach ihre Namen auf die Beute setzen, und es der Welt als ihr rechtmässiges Eigenthum verkaufen. Ich wünschte, es möchte nicht auch zuweilen derselbe Fall mit England seyn; doch, wie dem auch seyn möge, so ist es ein unwidersprechlicher Beweis von dem Vorzuge der Melodie, welche zur allgemeinen musikalischen Sprache von ganz Europa geworden ist; nicht wie das Französische, durch Eroberungen oder Staatskunst, sondern durch einstimmige Aufnahme an allen Orten, und von allen, welche Ohren haben, die des Vergnügens von Tönen fähig sind, und welche sich ihren eigenem Gefühl überlassen.[45]

In der That scheinen itzt die Franzosen das einzige Volk in Europa zu seyn, die Italiäner ausgenommen, welche eine eigenthümliche theatralische Musik haben. Die ernsthafte Oper zu Paris geht noch immer in Lulli's und Rameau's Fesseln, obgleich jedermann, der hineingeht, entweder gähnt oder lacht, ausgenommen wenn er durchs Ballet aufgeweckt, oder durch die Dekorations aufmerksam gemacht wird. Als Schauspiel betrachtet, ist diese Oper oft besser, als irgend ein anderes in Europa, als Musik aber ist sie unter dem Choralsingen unserer Dorfkirchen, denn sie ist ohne Tackt, ohne Intonation, und ihren Ausdruck kann kein andres als ein französisches Ohr ausstehen. Die Franzosen selbst haben auch wirklich diesen Punkt fast so gut als aufgegeben, so, daß bloß einige Köpfe aus einer Art von Nationalstolze den Streit noch unterhalten. Die übrigen gestehen ganz offenherzig, daß sie sich ihrer eigenen Musik schämen; und diejenigen, welche sie noch verfechten, werden bald dem Strome der Mode nachgeben müssen, welcher viel zu schnell und reissend ist, um ihn lange aufzuhalten.

Den 3. Jul. Diesen Abend waren der Prinz Carl und die vornehmsten Personen vom Hofe in der Komödie. Der Gageur, ein französisches Stück vom Sedaine, ward sehr schön vorgestellt; Madame Verteil, eine vortrefliche Schauspielerinn machte darinn die Hauptrolle. Hieraus hörte ich zum Erstenmal Les deux Miliciens eine Opera Comique, von Gretry komponirt;[46] die Musik war dieses fruchtbaren und sinnreichen Komponisten würdig.6 Die Instrumentalstimmen wurden ausserordentlich gut herausgebracht; in den Ritornels waren grosse Wirkungen, und die Poesie ward durch das reiche und mannichfaltige Colorit des Orchesters sehr gehoben. In einem musikalischen Drama kommt oft der Fall vor, wo ein zahlreiches und mit Eintracht arbeitendes Orchester mehr vermögend ist, zu mahlen, Ideen zu erwecken, und Leidenschaften auszudrücken, als eine einzige Stimme, oder selbst ein ganzes Chor, mit Anständigkeit unternehmen kann. Die kleine Oper von heute Abend näherte sich wirklich in allen ihren Theilen der Vollkommenheit. Sie war gut geschrieben, gut komponirt, gut gesagt, gut agirt, und die Instrumentalstimmen gut gespielt: wie leid thut mirs, daß mir die Wahrheit nicht erlauben will, hinzu zu setzen, und gut gesungen!

Während meines Aufenthalts zu Brüssel hatte ich das Vergnügen, mit Monsieur Girard, Secretair von der hiesigen gelehrten Gesellschaft, bekannt zu werden. Er ist itzt dabey, die Bücher und Handschriften der burgundischen Bibliothek,[47] die schon über zwey hundert Jahre hier sind, in Ordnung zu bringen, und ein Verzeichniß davon zu machen. Sie haben aber so lange in Vergessenheit und Unordnung gelegen, daß noch nicht bekannt ist, was alles darin steckt. Die Liebe des Fürsten von Stahrenberg zur Litteratur vermittelte es, daß diesen Büchern ein neues Behältniß gebauet wurde, und daß nun bald eine öffentliche Bibliothek daraus werden wird.

Die Manuscripte hier sind schöner illuminirt, als ich noch jemals welche gesehen habe. Die meisten davon sind von Burgund nach Brüssel gebracht, und sind sehr alt. Es ist zum Bewundern, zu was für einem Grade der Vollkommenheit das Miniaturmahlen in einigen derselben gebracht, vorzüglich in einem, das 1485. in Florenz abgeschrieben und illuminirt ist, und von Matthias Corvinus, König von Hungarn, dem Herzoge von Burgund geschenkt worden.

In alle diese alte Manuscripte ist das burgundische Waapen geklebt. Sie sind in ihre Klassen getheilet: Theologie, Geschichte und Künste, Dichtkunst und Ritter- und Liebesgeschichte. In den beyden Ersten fand ich verschiedenes Merkwürdiges für mein Werk.

Im Jahr 1745, als die Franzosen Brüssel besetzt hatten, nahmen die Commissarien, und selbst einige Officiere, gegen das Cartel, Bücher und Handschriften aus der burgundischen Bibliothek weg. Einige davon wurden zwar nach dem Frieden auf Verlangen zurück gegeben und besonders[48] das, was davon nach Paris in die Königl. Bibliothek gebracht worden; allein verschiedene andere von grossem Werthe sind in die Sarbonne oder andre Privathände gerathen, und also rein verloren.

Herr Girard war ungemein gefällig gegen mich; er war jeden Morgen um 6 Uhr bey mir auf der Bibliothek, und that mir allen möglichen Vorschub, und half mir selbst Auszüge machen. Er beehrte mich auch mit einem Besuch in meinem Logis, und gab mir einen Brief mit, an den Bibliothekar der churpfälzischen Bibliothek zu Mannheim, obgleich unsre Bekanntschaft bloß durch ein Billet veranlaßt worden, das ihm der Pater Needham schrieb, welcher durch seine mikroskopischen Entdeckungen und seinen Zwist mit Voltairen so bekannt ist.

Zu Brüssel hörte ich ein junges Frauenzimmer, die sehr schön auf der Harfe mit einem Pedale einige hübsche Stücke spielte, die Godecharle,7 ein Deutscher, komponirt hatte, welcher auch eine gute Violin spielt, und das Frauenzimmer bey diesen Stücken accompagirte. Sie ist seine Schülerinn. Die Harfe ist hier und zu Paris fürs Frauenzimmer sehr in Mode. Es ist ein angenehmes Instrument, das sich recht gut für sie schickt, und vermittelst des Pedals für die halben Töne ist es[49] nicht so lästig und unbehülflich, als unsre wälische Doppelharfe. Ihr Umfang ist vom doppeltenB bis zum dreygestrichenen f. Man kann vieles darauf ausdrücken, und läßt sich alles darauf machen, was auf dem Flügel zu spielen steht. Sie hat nur fünf und dreissig Saiten, welche, die tiefste ausgenommen, die reine diatonische Tonfolge enthalten. Die übrigen werden mit den Füssen gemacht.8

Sonntag den 26sten hörte ich abermal in der hohen Messe, in der Collegiatkirche St. Gudula eine Kirchenmusik, ziemlich stark besetzt mit Stimmen und Instrumenten, und es freuete mich unter den Erstern ein paar Frauenzimmer zu finden, welche zwar nicht gut sungen, aber deren Dortseyn mir doch bewies, daß man, ohne selbst der zu weit getriebenen Andacht ein sündliches Ärgerniß zu geben, weibliche Stimmen bey Kirchenmusiken zulassen könne. Würde die Gewohnheit allgemein, in den Kirchen die hohen Stimmen mit Weiblichen zu besetzen: so wäre es in Italien der Menschheit einen Dienst geleistet, und in dem übrigen Europa würde die Kirchenmusik dadurch angenehmer[50] und vollkommner werden. Denn überhaupt kann die beste Komposition keine Wirkung thun, wenn sie durch hohe Stimmen abgesungen wird, welche nicht die nöthige Zeit gehabt haben, glatt und fest zu werden; wenn die Hauptmelodie schwach vorgetragen wird, so bekommt man nur die Nebenstimmen zu hören, die doch nur begleiten und die Harmonie füllen sollten.

6

Dieser Autor setzt gleichwohl in seinen Partituren zuweilen die gemeinsten Regeln des Satzes aus den Augen, welches wohl daher kommen mag, daß er mit zu vieler Eilfertigkeit schreibt. Denn es ist kaum zu glauben, daß ein Mann von so bekanntem Genie sieben bis acht Jahre in einem Conservatorio zu Neapel studirt haben sollte, ohne eine hinlängliche Kenntniß der musikalischen Grammatik und des Mechanismus seine Kunst erlernt zu haben.

7

Soll sehr wahrscheinlicher Weise Gottschalk heissen. Die Verstellung deutscher Namen ist bey allen engländlichen Schriftstellern leider häufig.

8

Diese Methode, die halben Töne auf der Harfe vermittelst eines Pedals zu machen, ward vor ungefehr funfzehn Jahren zu Brüssel, von Herrn Simon erfunden, der sich noch in dieser Stadt aufhält. Es ist in mehrerley Betrachtung eine nützliche und sinnreiche Erfindung: denn dadurch, daß die Anzahl der Saiten vermindert wird, wird der Ton der übrigbleibenden besser; weil bekannt, daß ein Instrument desto freyer vibrirt, je weniger es überladen ist.

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. II]: Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, Hamburg 1773 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. 42-51.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tagebuch einer musikalischen Reise
Tagebuch einer musikalischen Reise: Durch Frankreich und Italien, durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland 1770-1772

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Inferno

Inferno

Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.

146 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon