III.

Friedrich Wagner.

[30] Geburt und Jugendzeit. – Eindrücke von Schillers Werken. – Juristische Studien, wohlgepflegte allgemeine Bildung. – Der Gerichtsaktuarius Wagner auf dem Leipziger Liebhabertheater. – Vermählung mit Johanna Bertz. – Hausfreunde. – Reicher Kindersegen. – Begeisterung für Schiller. – Die ›Jungfrau von Orleans‹ und die ›Braut von Messina‹.


So wie die edle Kunst die edle Natur überlebte, so schreitet sie derselben auch in der Begeisterung, bildend und erweckend, voran.

Schiller.


Es war eine hoffnungsvolle, schöne Zeit, als der Geist der alten Klassizität an der deutschen Dichterwärme unserer großen Meister neu sich belebte, und die Aufführung der ›Braut von Messina‹ vom Theater herab das Studium der großen Griechen bei Alt und Jung neu anregte!

Richard Wagner.


Wir beginnen diesen Abschnitt, anstatt mit einigen frischen Zügen des Lebens aus dem Einnehmerstübchen am Rannstädter Tor, mit ein paar recht trockenen Daten aus dem Aktenstaube des Kirchenbuchs. Da wir jene nicht erdichten können, stehen uns nur diese zu Gebote. Danach ist der Vater unseres Meisters mitten in der sommerlichen Höhe des Beethoven-Jahres 1770, am 18. Juni, als der erste und älteste Sprößling des im Jahre zuvor geschlossenen Ehebundes seiner Eltern zur Welt gekommen und empfing zwei Tage später in der Taufe die Namen Karl Friedrich Wilhelm. Als Zeugen des kirchlichen Aktes werden, außer dem Großvater mütterlicherseits, dem Schulhalter Eichel, der Akzisetorschreiber Karl Gottfried Körner und Christina Elisabeth Wahl, Ehefrau des Bärenburgischen Mühleninspektors Joh. Friedrich Wahl, aufgeführt.

Wir wissen wenig Genaueres über seine Jugendzeit. In die beiden ersten Jahrzehnte seines Lebens fällt jedoch gar mancher Vorgang des Leipziger öffentlichen Kunst- und Kulturlebens, der auf den Knaben und Jüngling sicher nicht ohne Einfluß geblieben ist. Das neu errichtete privilegierte Theater, in welchem damals die Döbbelinsche Gesellschaft deutsche Schau- und Singspielvorstellungen unter beifälliger Aufnahme des Publikums zum Besten gab, war ihm seit frühester Kindheit schon durch nächste Nachbar schaft eindrucksvoll: es [31] lag auf der Bastei am Rannstädter Tor, gegenüber der Reitbahn, in unmittelbarer Nähe seines Vaterhauses. Und während nach der Absicht des Hofes, durch den Vertrag mit dem Italiener Pasquale Bondini, der kaum drei Worte Deutsch verstand, die Bildung eines Kurfürstlichen deutschen Theaters für Dresden und Leipzig ganz aufgegeben war, brach sich gerade unter der Bondinischen Direktion durch die Aufführung Lessingscher Stücke und der Erstlingswerke Schillers der Sinn für das deutsch-bürgerliche Schauspiel vollends Bahn.1 Es ist dabei bezeichnend, daß die Schillerschen Werke in Leipzig meist früher als in Dresden gegeben wurden, weil man hier mit den Forderungen des Publikums, dort mit dem Geschmacke des Hofes zu rechnen hatte. Auf Bondini folgte in der Verwaltung der Anstalt dessen ehemaliger Sekretär Franz Seconda, dessen Bruder Joseph zu gleicher Zeit die Leitung der italienischen Oper in Dresden inne hatte. Beide Brüder wechselten nun eine zeitlang in der Weise miteinander ab, daß das Schauspiel in Leipzig, die Oper in Dresden spielte, und umgekehrt. Auch die Übersiedelung der sog. ›großen Konzerte‹, der hervorragendsten Institution Leipzigs für die Pflege der Musik, aus dem Saale des vormals Apelschen Hauses in den neu dafür eingerichteten mit allegorischen Deckengemälden geschmückten Saal des alten ›Gewand hauses‹ (1781) fällt in diese Epoche. Es war damit für die Vorführung bedeutenderer Musikwerke auf längere Zeit hinaus eine ausreichende Stätte geschaffen. In diesen Räumen sollten dereinst dem jungen Richard Wagner die Offenbarungen der Beethovenschen Symphonien aufgehen (von denen um diese Zeit noch keine Note geschrieben war!). Hier sollte er gar bald darauf auch seine eigene erfolgreiche erste Berührung und Fühlung mit der Öffentlichkeit seiner Vaterstadt gewinnen, um dann freilich – durch den plötzlichen Eintritt einer gänzlich abweichenden Richtung der Musikpflege – den Zugang zu diesen Konzerten fast auf Lebenszeit sich verschlossen zu sehen!

In welchem Grade durch die letztgenannte Institution auch in Friedrich Wagner ein tieferes Interesse für die Tonkunst angeregt worden sei, darüber fehlt es uns an jedem direkten Zeugnis. Bei dem jüngeren Bruder Adolf dokumentiert sich der Sinn für die Musik in den verschiedensten Lebensaltern auf das Bestimmteste. Sicher ist es, daß der Funke der Begeisterung für [32] die dramatische Kunst in Friedrich früh erweckt ward. Den großen Aufschwung deutscher Dichtung vom Messias zum Götz, vom Don Carlos zum Wallenstein machte er von Stufe zu Stufe als persönliches Erlebnis in sich durch. Es fällt leicht, sich den kunstbegeisterten zwölfjährigen Thomasschüler angesichts der Leipziger Erstaufführungen der ›Räuber‹ zu vergegenwärtigen, und damit zugleich den überwältigenden Eindruck, der ihm zu seiner späteren leidenschaftlichen Vorliebe für das Theater und persönlichen Verehrung für den Dichter den ersten entscheidenden Impuls geben mochte. Nicht lange darauf folgte ›Kabale und Liebe‹, unter Schillers Werken dasjenige, welches von Richard Wagner, im Hinblick auf die damalige Beschaffenheit und Fähigkeit des deutschen Theaters, als der ›vielleicht zutreffendste Beleg dafür bezeichnet wird, was bei voller Übereinstimmung zwischen Theater und Dichter bisher in Deutschland geleistet werden konnte‹, und welches daher, wie allenthalben, so auch Leipzig die hinreißendste Wirkung ausübte. Friedrich Wagner zählte damals fünfzehn Jahre. Dann traf der selbst noch ganz jugendliche Dichter in Person, der Einladung des enthusiastischen Körnerschen Freundeskreises folgend, zu mehrmonatlichem Aufenthalt in der Pleißestadt ein; in seiner Anwesenheit gelangte ›Fiesko‹ zur ersten Leipziger Aufführung. Der Eindruck war schwächer, als der von ›Kabale und Liebe‹; es konnte nicht anders sein. ›Im Ganzen brav‹, äußerte sich Schiller über die Aufführung ›aber daß man mir sieben Szenen kastriert, den Ausgang eigenmächtig abändert und manche Akteurs ihre Rollen ganz verfehlen, das war für mich kaum zum Aushalten.‹ Endlich – ›Don Car los‹! Wiederum zwar unter unvermeidlichen Hindernissen für seine Bühnenwirkung. Zu den Eigenmächtigkeiten, unter denen bereits ›Fiesko‹ zu leiden hatte, kam noch die völlige Abneigung der Darsteller gegen das versifizierte Drama. Eine seltsame Konsequenz aus der naiven Richtung des herrschenden bürgerlichen Schauspiels zum sogenannten ›Naturwahren‹, aus welcher andererseits so manches Gute und Echte entsproß. Schiller selbst mußte sich dazu herbeilassen, sein Werk für sechzig Taler eigens für Leipzig in Prosa umzuarbeiten. Eine Weigerung des Dichters wäre vergeblich gewesen; hätte er die Übertragung nicht vorgenommen, so wäre sie von Handlangerhänden ausgeführt worden. Wurden doch auch Goethes ›Mitschuldige‹ anfänglich nur in einer Prosabearbeitung (durch den Dr. Albrecht) zur Aufführung gebracht, welche bei ›Clavigo‹ und den ›Geschwistern‹ glücklicherweise nicht erst zu veranstalten war. Dementsprechend war denn auch die Aufführung, die zwar vor vollem Hause und unter ungewöhnlichem Beifall, aber unter vielfachen Rücksichtslosigkeiten und willkürlichen Extempores der Darsteller vor sich ging.2

[33] In seinem zwanzigsten Lebensjahr scheint Friedrich Wagner die Universität seiner Vaterstadt bezogen zu haben, um sich dem Studium der Rechte zu widmen, – Bruder Adolf hatte die Thomasschule noch nicht absolviert Friedrich Wagner war in der Folge ein tüchtiger, praktischer Beamter; seine männlich klare, tatkräftige Natur befähigte ihn dazu. Inwieweit er sich während seiner Studienjahre in der theoretischen Rechtsgelehrsamkeit über die nötigen Anforderungen des künftigen Berufs hinaus ausgezeichnet habe, entzieht sich unserer Kenntnis; doch muten wir dem lebhaft für die Kunst und Literatur Begeisterten eine spezifische Neigung für das trockene Fachstudium nicht zu. Für seine frühzeitig wohlgepflegte allgemeine Bildung spricht dagegen u. a. die von ihm im Laufe der Zeit angesammelte Bibliothek altklassischer und zeitgenössischer Autoren, die noch nach seinem Tode den Gegenstand brieflicher Unterhandlungen zwischen dem ältesten Sohne Albert und dem Onkel Adolf bildet. Daß zu dem feurig temperamentvollen jungen Manne gleichstrebende Genossen in fröhlicher Geselligkeit sich fanden, versteht sich; und wohl dürfen wir zu diesen Genossen der Studienzeit manche derjenigen Männer zählen, die, wie der nachmalige Amtskollege Gottfried Karl Barthel, mit ihm in gleichem Alter und durch gemeinsame Interessen verbunden, noch in späteren Lebensjahren als bewährte persönliche und Hausfreunde ihm treu zur Seite standen.

Im September 1794 beging Vater Gottlob Friedrich Wagner im Kreise der Seinen die fünfundzwanzigste Wiederkehr seines Vermählungstages; ein Jahr später (21. März 1795) beschloß der noch in rüstigem Alter stehende Mann die Bahn seines Lebens. Auf Friedrichs äußere Verhältnisse war der schmerzliche Verlust nicht mehr von entscheidendem Einfluß. Während die eben erwachsene Schwester bei der Mutter verblieb, die ihrerseits, nachdem sie den schweren Schlag des Schicksals überstanden, den Vater um volle neunzehn Jahre überlebte, und Adolf, soeben unter Beck in Leipzig seinen philologischen Studien obliegend, der väterlichen Unterstützung eher bedurft hätte, stand Friedrich bereits auf eigenen Füßen und konnte den Seinigen unter den veränderten Lebensverhältnissen eine wesentliche Stütze sein. Er war kurz zuvor, als rechtskundiger Vizeaktuarius bei den Leipziger Stadtgerichten, in den Staatsdienst getreten und wußte sich durch die hervortretendsten Züge seines Charakters, klar verständigen Überblick, Uneigennützigkeit [34] und freimütige Offenheit, alsbald die Achtung seiner Vorgesetzten und Mitbürger zu gewinnen. Dabei bewahrte er sich, stets ein lebhaftes Interesse für das geistige Leben seiner Zeit und Umgebung und ließ sich durch keine Amtsbeschäftigung Sinn und Neigung für Poesie und dramatische Kunst benehmen. So beteiligte er sich zu Zeiten selbst als Schauspieler an Privataufführungen auf der Bühne eines Dilettantentheaters und hat z. B. bei einer Darstellung von Goethes ›Mitschuldigen‹ mitgewirkt. Da es eine stehende Bühne damals in Leipzig noch nicht gab, sondern die Secondasche Gesellschaft in jedem Winter nach Dresden zog, um erst zur Ostermesse wieder zurückzukehren, nahm die theaterliebende Intelligenz der Stadt nicht selten zu solchen Aushilfsmitteln ihre Zuflucht.

Das Hauptlokal für diese Art der Kunstpflege befand sich am Rathausplatz in jenem großen Hause, das noch in Goethes Leipziger Erinnerungen als ›Apels Haus‹ erwähnt wird, in der Folge in den Besitz des Kurfürstl. Kammerkommissarius Andreas Friedrich Thomä überging, und um diese Zeit, im Besitze des Erben jenes wohlhabenden Handelsmannes, als Thomäsches Haus männiglich wohlbekannt war. Massiv gebaut, vier Stockwerke hoch, sechzehn Fenster breit, mit einem Altan über dem höchsten Stockwerk und in seinem Hinterbau von ansehnlicher Tiefe, war es nicht unpassend zur Aufnahme der Kurfürstlichen Familie, die bei ihren jeweiligen Aufenthalten in Leipzig in seinen Prunkgemächern ihren stehenden Wohnsitz nahm. Im Hintergebäude war unter anderen Gelassen ein geräumiger Saal belegen, dessen Plafond, in einem gestaltenreichen Gemälde von unbekannter Hand, den Olymp darstellte. In früheren Zeiten waren hier die vorerwähnten, großen Konzerte, der musikalische Stolz der Leipziger, ansässig gewesen. Seit diese den Raum bei ihrer Übersiedelung ins Gewandhaus verlassen hatten, diente er um so häufiger zu theatralischen Vorstellungen von Privatpersonen Friedrich August war ein Freund solcher Belustigungen, auch die Prinzen Anton und Max fanden daran Gefallen; und so oft der Kurfürst nach Leipzig kam, gab es regelmäßig Dilettantenaufführungen. Bei solchen Anlässen traten Männer, wie Lembert und Gubitz, wiederholt als Darsteller auf; junge Talente, die sich der Bühne zu widmen gedachten, machten hier ihre ersten Versuche; hier betätigte auch der Polizeiaktuarius Wagner seinen Eifer für die theatralische Kunst durch eigene Darstellungen. Die derzeitige Besitzerin und Verwalterin dieser Räume war die unverheiratete Tochter des letzten Besitzers ›Jungfer Jeannette Thomä‹.zu der Wagnerschen, Familie, nämlich zu beiden Brüdern, wie auch zu der Schwester Friederike, in den besten freundschaftlichen Beziehungen stehend.

Drei Jahre nach dem Tode des Vaters begründete Friedrich Wagner seinen eigenen Hausstand. Aus dem freundlichen Weißenfels an der Saale führte er sich am 2. Juni 1798 die Gattin heim: die neunzehnjährige, [35] anmutige Johanna Rosina Bertz (oder Berthis).3 ›Sie war eine schöne, mit praktischem Blick und frischem Mutterwitz begabte Frau, deren natürliche Anlagen für den Mangel an Tiefe und Vielseitigkeit ihrer Bildung entschädigten. In ihren Briefen lebt sie mit der Orthographie auf gespanntem, mit Men schen- und Weltkenntnis auf desto vertrauterem Fuße. (Buchstäblich dasselbe ist bekanntlich von Goethes Mutter zu sagen!) Aus allen Zuschriften aber, welche andere an sie richteten, spricht die hohe Achtung, welche sie allgemein genoß, und welche ihr auch ihr großer Sohn bis zu ihrem Hinscheiden zollte.‹ So wird sie uns nach den Erinnerungen ihrer Kinder geschildert.4 Und wiederum: ›Sie war nicht groß von Gestalt, und aus ihrem lieblichen, aber kaum noch von den Nachwirkungen des früheren Residenzlebens berührten Heimatsorte5 hatte sie weder eine tiefe, noch vielseitige Bildung mitgebracht; aber sie besaß etwas Wertvolleres als dies: eine wohltuende Heiterkeit, einen unversieglichen Witz, der rasch über die Situation verfügt, und ein praktisches Geschick, das sich die Dinge so gut als möglich zurechtlegt.‹6 Mit diesen Gaben ausgestattet, die ›selbst einem begrenzten Leben Reiz und Wert zu verleihen vermochten‹, bewährte sie sich ihrem Manne als treu sorgende Hausfrau und der ihrem Schoße entwachsenden zahlreichen Nachkommenschaft als liebevolle Mutter. Ein Blick auf das Haus und den Verkehr Friedrich Wagners zeigt ihn in gar mannigfachen Beziehungen. Beruf und Neigung zur Geselligkeit, im Verein mit einem heiteren und lebensfrohen Charakter stellten den wohlangesehenen Mann in die beste Leipziger Gesellschaft. Sein Umgang gehört größtenteils den Juristen- und Kaufmannskreisen seiner Vaterstadt an, und wurde zum Teil durch seine begeisterte Neigung für Theater und Poesie bestimmt. Wir treffen in dem gastlichen Hause am Brühl, dem ›weißen und roten Löwen‹,7 bei Kindtaufen und Familienfestfeiern außer dem bereits genannten Stadtgerichtsschreiber[36] Barthel, den Advokaten und Akzise-Inspektor Gottlieb Haase nebst Frau, den Konsistorialadvokaten Dr. Karl Christoph Kind (Sohn des als Plutarch-Übersetzer bekannten Leipziger Stadtrichters und älteren Bruder des nachmaligen ›Freischütz‹-Dichters), den Advokaten Heinrich Karl Elias Schulze; ferner den Seifensieder-Obermeister Joseph Gottfried Töpfer nebst Gattin Maria Regina, den Dr. Friedrich Ernst Gerlach u. a. m. Später kommen hinzu der (auch Adolf Wagner nahestehende) kunstfreundliche Kaufmann Adolf Träger, der Stadtgerichtsregistrator Paul David Pusch, der junge Advokat Dr. Wilhelm Wiesand. Als wiederholt funktionierende ›Taufzeugin‹ im Wagnerschen Hause (in den Jahren 1803, 1807 und 1809) finden wir namentlich auch die bereits erwähnte Jeannette Thomä. Daneben verkehrte Friedrich Wagner gern mit den gebildetsten und beliebtesten Mitgliedern der Secondaschen Schauspielergesellschaft. Zu den vertrauteren Freunden des Wagnerschen Hauses gehörte die aus Leipzig gebürtige, talentvoll tüchtige Wilhelmine Hart wig, geb. Werthen. Sie war i. J. 1796 an Stelle der, Schiller befreundeten, Sophie Albrecht, als neunzehnjähriges junges Mädchen in die Secondasche Gesellschaft eingetreten und riß das Leipziger Publikum besonders als Luise in ›Kabale und Liebe‹ durch Wahrheit und natürliche Leidenschaft in Ausdruck, Gestikulation und Mienenspiel hin. ›Hauptsächlich hat sie ihr schönes, braunes Auge ganz in ihrer Gewalt, und zaubert damit, was sie nur will‹, so schreibt über sie ein enthusiastischer Zeitgenosse aus dem Jahre 1799. ›Man muß in der Tat kein Herz haben, um es nicht im Innersten bewegt zu fühlen, wenn dies Auge in sanftem Schmerze sich mit Tränen zu füllen scheint, oder wenn es sich in stiller Resignation zum Himmel hebt oder im Wahnsinn vor sich hinstarrt.‹ Vielleicht können wir eine Wirkung des Eindruckes dieser ›Luise‹ in dem Umstande wiederfinden, daß Friedrich Wagners Tochter in der Taufe gerade diesen Namen erhielt, wie sie denn auch nach des Vaters Tode wirklich der besondere Schützling und Zögling dieser vortrefflichen Frau und Künstlerin wurde.

Der erste Sproß aus Friedrich Wagners jungem Ehebunde war der am 2. März 1799 geborene Sohn Karl Albert, dessen auffallende Familienähnlichkeit mit seinem großen jüngeren Bruder in Stimme, Gebärden und Bewegungen uns vielfach versichert worden ist. Als erstgeborener Sohn hat er späterhin in der Wahl seines Lebensberufes die Neigung des Vaters für die theatralische Kunst vorübergehend mit Glück betätigt, während doch andererseits eine vorwiegend nüchtern praktische Grundanlage in ihm die künstlerischen Impulse überwog und diese am Ende ganz erstickte.8 Wir geben gleich an [37] dieser Stelle im voraus einen Überblick über die Reihe der ihm folgenden Geschwister, bis zum Jahre 1812: Karl Gustav, geb. 21. Juli 1801; Johanna Rosalie, geb. 4. März 1803; Karl Julius, geb. 7. August 1804; Luise Konstanze, geb. 14. Dezember 1805. Klara Wilhelmine, geb. 29. November 1807. Maria Theresia, geb. 1. April 1809; Wilhelmine Ottilie, geb. 14. März 1811. Ein so reicher und ununterbrochener Kindersegen zog notwendig zu allen Elternfreuden gar mancherlei häusliche Sorgen und Beschwernisse nach sich: zwei von den genannten acht Geschwistern, der Knabe Gustav und die Tochter Therese, werden in noch jugendlich zartem Alter, letztere vor vollendetem sechsten Lebensjahr, durch Krankheit dahingerafft; die übrigen gediehen in kräftiger Gesundheit. Halten wir bei solcher Vergegenwärtigung des Wagnerischen Familienbestandes den Gesichtspunkt der darin sich kundgebenden Bedingungen für die Erzeugung des Genius aus seiner Mitte im Auge, so springt uns daraus in recht auffälliger Weise eine überaus sprechende Tatsache entgegen. Das Inslebentreten der außerordentlichen Erscheinung stellt sich uns recht greifbar als das Endergebnis einer ganzen Reihe vorausgegangener Geburten dar, in deren stetiger Folge die Natur, wie zum Zwecke ihrer Hervorbringung durch das dazu erlesene Paar, ihre Kräfte gleichsam geübt, oder auch gesammelt und aufgespart hat. Ja, selbst das anfängliche Vorwiegen männlicher, dann aber fast ausschließlich weiblicher Geburten will uns, in diesem Lichte betrachtet, im Hinblick auf die so ausgesprochen männliche Natur des Wagnerschen Genius durchaus bedeutsam erscheinen. Bei hervorragenden Persönlichkeiten auf geistigem Gebiete, wie Schiller, Mozart, Goethe, Schopenhauer u. a. findet sich der gleiche Umstand wieder, daß sie wohl Schwestern, aber keine Brüder hatten, außer etwa schwächliche, früh verstorbene Wollen wir jedoch die Ergründung der inneren Gesetzmäßigkeit solcher Erscheinungen hier gern dem Metaphysiker überlassen, und ist es nach unserem Empfinden überhaupt irrig, das Gesetzmäßige stets nur in der Verallgemeinerung oder der Analogie, anstatt in der sinnvollen Anschauung des gegebenen bedeutenden, Falles zu suchen, so möge auch die vorstehende Bemerkung weniger als bloße willkürliche Reflexion über die Herkunft des Genius, vielmehr nur als unwillkürlich sich aufdrängendes Ergebnis der Betrachtung eines rein tatsächlichen Verhältnisses aufgefaßt wer den, welches zur Anerkennung seiner Gültigkeit und Bedeutsamkeit keiner Verallgemeinerung noch Analogie bedürftig ist.9

Wir deuteten zuvor darauf hin, wie die vielfach groteske Unvollkommenheit der Darstellung, besonders auch der Behandlung des dramatischen Verses, als stilistischer Grundlage des höheren Dramas, im einzig hergebrachten pathetischen [38] Alexandriner-Stelzenschritt, unsere großen Dichter den Theatern gegenüber immer zurückhaltender machte. Seit den Erfahrungen an Don Carlos und Wallenstein kostete es Schiller eine zunehmende Überwindung, seine Werke einer mißverständlichen szenischen Darstellung preiszugeben, und noch während der letzten Arbeit zu seiner – in jedem Zoll für die unmittelbare Bühnenwirkung bestimmten – ›Jungfrau von Orleans‹ äußerte er sich darüber in schmerzlicher Resignation gegen den großen Freund: ›Nach langer Beratschlagung mit mir selbst werde ich das Stück nicht auf das Theater bringen‹. Nun aber geschah dies doch, und zwar eben in Leipzig. Hier erlebte im September 1801 der eben anwesende Dichter, auf der Durchreise (von einem mehrwöchentlichen Dresdener Erholungsaufenthalt im Schoße der Körnerschen Familie), die erste Aufführung seines neuen Werkes. Körner war, in seiner Begleitung, mit dazu anwesend. Der – damals einunddreißigjährige – Aktuarius Wagner befand sich mit seiner jungen Gattin unter den Anwesenden, die nach dem Ende des ersten Aufzuges mit einem begeisterten ›Vivat Friedrich Schiller!‹ sich gegen die Loge wendeten, in welcher der Dichter mit den Seinen Platz genommen hatte. Pauken und Trompeten mischten sich mit jubelndem Schall in den brausenden Hochruf. Am Schlusse der Vorstellung drängte sich Alles, den Gefeierten beim Ausgange aus dem Theater zu sehen; entblößten Hauptes öffnete ihm die Menge eine Gasse, – nicht unter lärmenden Zurufen, sondern in ehrerbietigem Schweigen. Aber Väter und Mütter hoben ihre Kinder auf, um ihnen über die Häupter der vor ihnen Stehenden hinweg den Dichter zu zeigen. Nach Albert Wagners Angabe galt die erste Aufführung der Jungfrau im Wagnerschen Hause noch lange als ein ›Ereignis‹, und der 18. September 1801 als ein denkwürdiges Datum.10 Im Juni 1803 befand sich Friedrich Wagner mit seiner Gattin auf einem Sommerausflug in Lauchstädt, damals einem stark besuchten Modebad, in welchem der sächsische Adel der Umgegend, sowie die ersten Familien des Leipziger Kaufmanns- und Gelehrtenstandes die Spitzen der Gesellschaft bildeten. Mit der Weimarischen Theatertruppe war Schiller nach Lauchstädt gekommen, seine Ankunft rief das höchste Interesse hervor; wiewohl er auf der Promenade die einsamsten Wege aufsuchte, war er dennoch beständigen Begrüßungen ausgesetzt. Einen unbeschreiblichen Enthusiasmus erregte die Lauchstädter Aufführung der ›Braut von Messina‹, mochte auch einfallender Gewitterregen mit heftigem Geräusch auf das Dach schlagen und man bei aller Anstrengung der Schauspieler ›viertelstundenlang‹ keine zusammenhängende Rede verstehen. Bei der vorerwähnten Leipziger Aufführung der Jungfrau hatte Frau Hartwig mit allem Aufgebot [39] ihres Könnens die Rolle der Johanna gespielt und dafür den aufmunternden Beifall des Dichters erhalten; Zeugen ihrer damaligen Leistung gedenken derselben noch in späteren Jahren, selbst unter dem Eindruck des Spieles der genialen Sophie Schröder. Im übrigen hatten auch die rührendsten Zeichen begeisterter Verehrung des Publikums den Dichter nicht über die Schwächen der Wiedergabe seines Werkes hinwegzutäuschen vermocht; in einer wenige Tage darauf stattfindenden Konferenz im Theater beklagte er sich vielmehr abermals über ›das gräßliche Maltraitieren der Jamben‹ von Seiten der Darsteller; selbst den vorzüglichen Leipziger ›Talbot‹, Ochsenheimer, von dem es seines ausdrucksvollen Mienenspieles wegen hieß, er müsse ›auch ohne Hände und Füße ein großer Schauspieler bleiben‹, nahm er von dem allgemeinen Urteil nicht aus. Wie sollte dies aber auch an einer Bühne anders sein, an welcher, wie an den damaligen deutschen Bühnen überhaupt, Iffland und Kotzebue als die eigentliche Seele, die Herren des Repertoires zu betrachten waren?

Gar dunkle Wolken waren inzwischen am Horizonte des deutschen Vaterlandes herausgezogen. Der Lüneviller Friede hatte die Abtretung Belgiens und des gesamten linken Rheinufers an Frankreich zur Folge gehabt; drei Jahre später, am 20. Mai 1804, war Napoleon zum erblichen Kaiser der Franzosen proklamiert. Bei seinem Triumphzug durch die Rheinlande spannten ihm deutsche Bürger in Köln die Pferde aus, um ihn mit eigenen Händen auf das Schloß zu ziehen. Hatten sich schon vorher viele deutsche Fürsten in eigensüchtiger Politik Frankreich angeschlossen, um sich durch dessen Beistand auf Kosten ihrer Mitstände zu vergrößern, so geschah dies jetzt noch in höherem Maßstabe. Immer näher zogen sich die drohenden Wolken der völligen Auflösung aller politischen Selbständigkeit auch über Sachsen zusammen.

Fußnoten

1 Ähnlich war es an anderen Orten, wie z. B. in Prag, dessen deutsche Bühne der Italiener Domenico Guardasoni durch das Engagement ausgewählter Kräfte, z. B. Eßlärs, zuerst zu einem gewissen Glanze brachte. Anders, als durch Italiener, ging es eben nicht, vorzüglich wo deutsche Höfe mit in das Spiel kamen. ›An diesen Höfen wurden, wenn von Kunst und Musik die Rede war, in erster Linie nur Ausländer, möglichst mit schwarzen Bärten, unter Künstlern verstanden‹ (Richard Wagner, Gesammelte Schriften X, S. 9). Auf diese konnte dann in unseren Tagen recht schicklich eine andere ›brünette‹ Rasie folgen, besonders unter Mithilfe beigelegter ›deliziöser‹ italienischer oder französischer Namen!


2 Um diese richtig zu verstehen, ist der damalige Stand des deutschen Theaters gerechterweise in Betracht zu ziehen. ›In der sogenannten Natürlichkeitsschule aufgezogen, ohne Vorbild für die Lösung der ihnen gebotenen höheren Aufgaben, glaubten die Darsteller sich der rhythmischen Verse nicht anders bemächtigen zu können, als durch Wiederauflösung derselben in Prosa‹, so charakterisiert später Richard Wagner die Darsteller dieser Epoche. Im entgegengesetzten Falle wurden die betonten Silben so ungebührlich gedehnt, daß man nach dem drastischen Ausdruck eines Ohrenzeugen (Genasts) das Geräusch einer Sägemühle in voller Tätigkeit zu hören vermeinte. Der Erfolg hiervon war, daß es z. B. Schiller eine immer größere Überwindung kostete, seine Werke den Theatern zu übergeben.


3 In den Familienregistern findet sich der Name in beiden Formen: Bertz und Berthis, angegeben. Der Name ›Berthis‹ ist die altertümliche Genitivform (noch bei Luther treffen wir: Gottis, für Gottes) des männlichen Namens Berth oder Brecht, ›der Glänzende‹; also patronymisch gebildet, wie die geläufigeren Friedrichs, Peters u. dgl.; ›Bertz‹ die Verkürzung davon. Mundartlich auch: Perthes.


4 Augsb. Allg. Zeitung 1883 (F. Avenarius).


5 Das hochliegende fensterreiche Schloß Neu-Augustenburg in Weißenfels war bis zum Jahre 1746 Residenz der Herzöge von Sachsen-Weißenfels.


6 Prof. R. Gosche in der Einleitung zu seinem Werk ›Richard Wagners Frauengestalten‹.


7 Der Doppelname des Hauses und Grundstückes ›zum weißen und roten Löwen‹ rührt daher, daß letzteres die Bereinigung zweier ursprünglich getrennter Komplexe repräsentiert. Das Haus ging im Jahre 1661 durch Umbau aus einer Vereinigung des Hauses zum ›roten Löwen‹ mit dem schon 1590 genannten ›weißen Löwen‹ hervor. Der ›rote Löwe‹ begegnet bereits in Dokumenten aus dem Jahre 1535, wo ihn Vinzent Schöpperitz von Matthes Cleemanns Erben übernahm; der angrenzende ›weiße Löwe‹ war um 1590 zu den ›drei Schwänen‹ geschlagen worden, um dann siebzig Jahre später mit dem ›roten Löwen‹ vereinigt zu werden. Der mächtige Löwe über dem Eingang bezeichnete bis zum Jahre 1885 das Geburtshaus Richard Wagners, bis seine Niederreißung wegen konstatierter Baufälligkeit unvermeidlich war


8 Genau die umgekehrte Mischung der Elemente treffen wir in der Natur Richard Wagners an, dessen überschwänglicher Künstlergenius bei jedem Betreten des reintechnischen Bodens einer jeden seiner gewaltigen Unternehmungen den eminent praktisch organisierenden Sinn doch auch nie verleugnet, vielmehr in der erstaunlichsten Weise in jeder Einzelheit bewährt hat.


9 Vgl. übrigens zu dieser ganzen Erwägung S. 78 dieses Bandes.


10 Es war dies überhaupt die erste Aufführung der ›Jungfrau‹ auf einem deutschen Theater; die Berliner Aufführung fand erst am 23. November statt; die erste Weimarische verzögerte sich bis zum 23. April 1803!

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 30-40.
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