Der Heidemann1

[56] »Geht, Kinder, nicht zu weit ins Bruch,

Die Sonne sinkt, schon surrt den Flug[56]

Die Biene matter, schlafgehemmt,

Am Grunde schwimmt ein blasses Tuch,

Der Heidemann kömmt!« –


Die Knaben spielen fort am Raine,

Sie rupfen Gräser, schnellen Steine,

Sie plätschern in des Teiches Rinne,

Erhaschen die Phalän' am Ried,

Und freun sich, wenn die Wasserspinne

Langbeinig in die Binsen flieht.


»Ihr Kinder, legt euch nicht ins Gras, –

Seht, wo noch grad' die Biene saß,

Wie weißer Rauch die Glocken füllt.

Scheu aus dem Busche glotzt der Has,

Der Heidemann schwillt!« –


Kaum hebt ihr schweres Haupt die Schmele

Noch aus dem Dunst, in seine Höhle

Schiebt sich der Käfer und am Halme

Die träge Motte höher kreucht,

Sich flüchtend vor dem feuchten Qualme,

Der unter ihre Flügel steigt.


»Ihr Kinder, haltet euch bei Haus,

Lauft ja nicht in das Bruch hinaus;

Seht, wie bereits der Dorn ergraut,

Die Drossel ächzt zum Nest hinaus,

Der Heidemann braut!« –


Man sieht des Hirten Pfeife glimmen,

Und vor ihm her die Herde schwimmen,

Wie Proteus seine Robbenscharen

Heimschwemmt im grauen Ozean.

Am Dach die Schwalben zwitschernd fahren

Und melancholisch kräht der Hahn.
[57]

»Ihr Kinder, bleibt am Hofe dicht,

Seht, wie die feuchte Nebelschicht

Schon an des Pförtchens Klinke reicht;

Am Grunde schwimmt ein falsches Licht,

Der Heidemann steigt!« –


Nun strecken nur der Föhren Wipfel

Noch aus dem Dunste grüne Gipfel,

Wie übern Schnee Wacholderbüsche;

Ein leises Brodeln quillt im Moor,

Ein schwaches Schrillen, ein Gezische

Dringt aus der Niederung hervor.


»Ihr Kinder, kommt, kommt schnell herein,

Das Irrlicht zündet seinen Schein,

Die Kröte schwillt, die Schlang' im Ried;

Jetzt ist's unheimlich draußen sein,

Der Heidemann zieht!« –


Nun sinkt die letzte Nadel, rauchend

Zergeht die Fichte, langsam tauchend

Steigt Nebelschemen aus dem Moore,

Mit Hünenschritten gleitet's fort;

Ein irres Leuchten zuckt im Rohre,

Der Krötenchor beginnt am Bord.


Und plötzlich scheint ein schwaches Glühen

Des Hünen Glieder zu durchziehen;

Es siedet auf, es färbt die Wellen,

Der Nord, der Nord entzündet sich –

Glutpfeile, Feuerspeere schnellen,

Der Horizont ein Lavastrich!


»Gott gnad' uns! wie es zuckt und dräut,

Wie's schwelet an der Dünenscheid'! –

Ihr Kinder, faltet eure Händ',

Das bringt uns Pest und teure Zeit –

Der Heidemann brennt!« –[58]

1

Hier nicht das bekannte Gespenst, sondern die Nebelschicht, die sich zur Herbst- und Frühlingszeit abends über den Heidegrund legt.

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 56-59.
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