Die Erdbeeren

[314] 1772.


Holde Erdentöchter,

Frühlings frühe Kinder,

Schon aus Sonnenvaters

Warmem Lebenshauche

Und aus Mutter-Erden

Kühlem Schooß empfangen,

Kühle, süße Beeren!


Wie sie dort im Grase

Hügelaufwärts glühen

Und ins Grün erröthen,

Jetzt den Wandrer lieblich

Locken, jetzt entschlüpfend

Täuschen – Buhlerinnen,

Wie die Erdentöchter!


Ha, wie Vater Frühlings

Odem sie durchbalsamt,

Und der Mutter Erde

Kühle sie erfrischet![314]

Wie aus niederm Grase

Labung auf sie duften!

Glühen da wie Sterne!


Sollet bald in Schaaren

Lieblich schwimmen! – Sterne,

Jetzt in weißer Unschuld,

Jetzt in goldnem Feuer

Schöngepaaret! Feuer,

Unschuld! und der Liebe

Und der Freude Töchter!


Mir ein ganzer Frühling,

Mir ein ganzes Leben!

Unschuld, Kraft und Freude,

Kühl' und Süße! Rose

Ohne Stachel, Labung

Ohne Felsenschlaube!

Schön und tief im Grase!


Mir ein ganzer Frühling,

Mir ein Duft aus Eden!

Als einst Paradieses

Sel'ge Fluren schwanden,

Waren's Manns Gebete,

Waren's Eva's Thränen,

Die zu Duft da blieben?


Oder bracht' ein Bruder-

Engel Euch hinieden

In die Wilde? – Labung

Wo dem matten Wandrer

Zu bereiten, Labung,

Als er, halb verschmachtet,

Traurig abwärts blickte?


Kommt dem matten Wandrer

Auch in wüster Wilde

Labung! Wenn er traurig

Pfadverloren abwärts

Blicket – dann erscheint ihm

Kühle, Labung, ferner

Rosenduft aus Eden!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 314-315.
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