Sanct-Johannes-Nacht

[311] Schönste Sommernacht!

Ich schwimm' in Rosen und blühenden Bohnen

Und duftenden Hecken und Nachtviolen,

In tausend Düften – o Natur,

Wo kenn' ich Deine Kinder alle,

Die Bräute alle,

Die jetzt sich schmücken und lieben und paaren

Und feiern Brautnacht! – Schöne Nacht!

Wie die Schöpfung flammet und wallt!

Als ob der allanflammende Sonnenvater

Mit welcher Jugendinbrunst jetzt

Die Erd' umarmt'! – Und der Himmel brennt:

Dort Abendroth, hier Morgenroth –

Wie kühler, dämmernder Thautag! – Und –

Und hundert Wesen schwirren empor

In Luft und Wasser und See und Sand,

Summen empor! Lieben! – Unendlich, ach,

Unerschöpflich bist Du schön,

Mutter Natur!

Und hundertartige Deiner Kinder

In Leben und Lieben und Sein und Freuden!

Wer kann sie zählen! wer kann sie fühlen! –

Und Du,[311]

In hundert Arten und Sein und Wesen

Und Lieb' und Freuden Dich

Allfühlend, o Natur,

Wie nenn' ich Dich?


Wer bin ich unter den Millionen,

Die jetzt genießen – und wer

Unter den unendlichen Millionen,

Die ich genießen nicht seh',

In Blum', in Blüth', im wehenden Duft

Der Nachtviole!

Wie Tausende sind vielleicht,

Die die Blüthe knospen! die Ros' erröthend

Spinnen und färben und dufther schwimmen,

Schwimmen um mich – kühlen mich,

Und ich seh' sie nicht!

Da fliegt der leuchtende Funke Gottes,

Der Sommerwurm!

Kleiner Wurm, leuchtender Funke, komm,

Glänze mir!

Wer warst Du, daß die schaffende Hand

Dich also angeglüht?

Mit Sonnenglanz, mit Sonnengluth!

Wer bist Du?

Etwa der Seligen einer? Ein

Verbanneter Unsterblicher,

Aus Raupenstand und Grabegespinnst

Den Wurm zu erlösen.

Und trägst noch Siegel der Unsterblichkeit

Und glühst noch lang' im Tode noch fort –

Ziehst Blitzesfunken und duftest Feu'r,

Nicht Strömen erlöschbar, die Gold,

Die Felsen zernagen – Wunderwurm,

Und kriechst im Staub!

Fleuch! ich kenne Dich nicht! Wunderwurm!

Lebe Dein Sommerleben im Flug,

Im Staube! wie's Der will,

Der Dich gemacht.

Kenn' ich mich?

Eben so klein, fliegend und wallend

Und sonnentsprungen – kenn' ich mich?[312]

Wer war's, der Funken dem Staube gab,

Daß er ihm vom Auge leucht',

Erflamme vom Herzen,

Oft so matt! und wie lang'?

Und lodert er fort dann? – Fleuchst,

Funke, Du fort?

Aus Raupenstand, aus Grabesnacht,

Wenn Dein Wurmkörper hier hin ist, noch

Ein Würmchen zum Engel zu lösen? – – –

All' meine Sinne sind

Verschlossen! – Um meine Sinn'

Ist Sommernacht!

Bin nicht zu denken hier! – zu sein! zu hoffen!

Leben und mich zu freun!

Leben – allein?

Nicht ist der leuchtende Wurm,

Wird nicht allein sein!


Und allein mich freun?

Niemand zu sagen, wie schön

Im Sommerliebesbrande,

Mutter Natur, Du seist!

Mutter Natur!

Niemand zu haben, der mit

Schwirren die Schöpfung höre, mit

Höre die leisen Räder gehn

Und sehn

Den leuchtenden Engel fliegen

Und denken Unsterblichkeit!

Vereint sie denken, vereint,

Schöne Mutter Natur,

Fühlen an Deiner Brust, uns drücken

An warmes Herz!

Freundschaft, holdester Funke

Der holden Natur!

In heiliger Nacht, in Zaubernacht,

Mutter Natur, bet' ich Dich an!

Sei ich's werth des edelsten Funken,

All Deiner Flammennatur!

Komme, mein leuchtender Engel,

Den Wurm zu beleben!

Zauberlaube,[313] Wo seh' ich Dich?

Und um mich gegossen

Mein sanftes Weib!

Zauberlaube,

Wo seh' ich Dich?

Rosen und Mondstrahl um Dich schwimmend

Und liebender Wachtelschlag,

Zauberlaub', und der Knabe hängt

An Mutterarm! An Mutterbrust

Ihr gleich das sanftere Mädchen!

Und der wilde, trotzige Knabe lernt

Staunen der Sommernacht! hören Gott,

Hören schwirren und liebegirren

Die Schöpfung!

Sanfter bebet alsdann die Mutterbrust,

Sanfter schmieget der Säugling, trinkt

Wollust Gottes, und ich – und ich –

Zauberlaube, wie bin ich allein!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 311-314.
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