Prolog

zu einer Theatereröffnung in Zürich[205] 1

1864


Halb sorg- halb lustbewegt ziehn wir das Tuch,

Das leichte, das ein leichtes Spiel verhüllt,

Empor zum niedern Himmel dieser kleinen

Gemalten Welt, ein Spiegel eurer großen.

Von Lust bewegt sind wir, voll anzustimmen

Das endlos stete, wechselvolle Lied

Des alten Menschenschicksals, dessen Rad,

Wie eine Mühl am Bächlein, ewig dreht

An ros'ger Welle herzentströmten Blutes.

Laut mitzusingen diesen alten Sang,

Schon wiegend uns in den gemeßnen Rhythmen,

Ziehn wir entschlossen rasch den Vorhang weg,

Doch sorgerfüllt auch, weil wir fremd euch sind

Und ungewiß des Beifalls eurer Augen.


Dort, wo die Gärtner ihre Blumen pflegen,

Sagt man vom Flor, der einen Sommer lang

Nur blüht, um dann dem Mutterschoß der Erde

Entrafft zu werden: Das ist Sommerflor!

Uns, die wir kommen, wann die Schwalben ziehen,

Und gehen, wann der holde Mai erschien,

Um winterlang an dieser Lampen Licht

Ein kurzes Blütenleben zu entfalten,

Uns nennt man füglich armen Winterflor.

Ja, wenn der Sonnenwagen höher steigt

Und abendlich der trüben Lampen spottet,[206]

Dann wandern schon wir wieder in der Ferne,

Und keines weiß, ob es je wiederkehrt.


Denn dieses Haus, auf alten Pfeilern ruhend,

Es bietet dennoch keinen festen Stab,

An dem ein Kunstgesetz mag dauernd ranken

Und Wurzel fassen in des Volkes Leben,

In seiner Sitte und der reichen Sage

Des Landes, drin der Teil einhergeschritten.

Ja, dieses Volk, in reg empfundnem Triebe,

Eilt aller Kunst voran und übt sich frei,

Gesetzlos spielend, auf den freien Fluren;

Da sieht man oft auf kaum ergrünter Wiese

Ein leicht Gerüst, drauf unter Frühlingswolken

In bunter Tracht, voll Eifer, es tragieren,

Von seiner eignen Menge ernst umringt.

Und schließt die Handlung, so begehn die Spieler,

Vereint in einem Zuge mit den Hörern,

Des Orts Gemarkung feierlichen Schritts;

So freut das Volk der trauten Heimat sich.

Wir aber, fremd, verdrängen Schar um Schar

Uns, niemals heimisch, jede wischt die Spur

Der andern eilig aus, und wen'ge nur

Hört man, schon halb vergessen, flüchtig nennen.


Wie man uns sagt, war hier in diesen Mauern

In alter Zeit ein Schauplatz höhrer Art:

Die bunte Leinwand unsrer Szene birgt

Die Pfeiler eines Gotteshauses, drin

Das kniende Volk in priesterlichem Pomp

Das hehre Spiel der Wandlung Gottes sah.


Verschollen sind und Asche längst die Priester!

Doch seht, hier dicht am Kreuzgang, der noch steht,[207]

Und eingebaut in seine got'schen Bogen,

Der nächste Nachbar klangerfüllter Bühne,

Ist das Theater der Gerechtigkeit!

Da sieht das Volk geschworne Richter sitzen,

Die ernst und tief der Menschen Schuld erwägen,

Sieht die erstaunliche Beredsamkeit

Und Kunst der Todesfurcht, womit die Schuld'gen

Den Dialog mit ihrem Kläger führen

Und die gelaßnen Zeugen grimmig schelten,

Bis sie besiegt die Maske von sich werfen,

Um Gnade flehend, oder auch mit Ruh,

Die beßrer Sache würdig, untergehn.

Und eine Handlung, graun- und schicksalsvoll,

Verdrängt die andre vor entsetzter Menge.

Wohl auch Gelächter füllt den bangen Raum,

Wenn schlimme Toren um unsäglich Schnödes

Sich noch vor Schwert und Waage trüglich streiten

Und possenhaft dem Richterspruch erliegen.


Und wagen dennoch wir das Musenspiel

An solchem Ort, in solcher Nachbarschaft?

Wenn wir's gestehn, sie schrecken uns nicht weg,

Sie mahnen uns, den tiefern Ernst zu suchen,

Der unserm Spiel sein höhres Recht verleiht.

Uns klingt das Lied des Dichters in den Ohren

Von jenen Kranichen des Ibykus,

Und schauernd fühlen wir den Mut in uns,

Das Herz bewegt, das Trauerspiel zu wagen

Von Menschenschuld und Sühne des Gewissens;

Uns reizt der Wettkampf auch mit der Natur,

Wenn sie durch Leidenschaft den höchsten Stil gewinnt.


Doch wie es euch gefällt! Nicht wir sind es,

Die euch belehren dürfen über euren Sinn.[208]

Gefällt es euch, in heitrem Wechsel stets

Aus weiter Welt das Neuste herzuholen:

Wohlan, wir selbst sind hier durch diesen Sinn

Und eures Urteils aufmerksam gewärtig.

Wir spielen eure Welt, wie wir's verstehn

Und wie der Geist uns treibt, und müßten spielen,

Auch wenn kein Augenstern uns freundlich glänzte,

Und dünken uns dabei recht was zu tun!

Vergönnt uns diesen Stolz; er ist das Maß

Der Fordrung, die wir ehrlich selbst uns stellen.

Dem Guten schenket Nachsicht, das wir geben,

Das Beste noch bedarf der Freundlichkeit;

Und wo wir fehlen, schenkt den Tadel nicht,

Doch seid gerecht: dies ist des Schauers Pflicht.

Und richtet er mit ungeschickter Hand,

So wird er selbst des Spieles Gegenstand!


Fußnoten

1 Das Theater in Zürich wird nur im Winter benutzt, unter jährlichem Wechsel der Schauspieler. Es ist in Schiff und Chor der ehemaligen Barfüßerkirche eingebaut; an den zum Teil noch erhaltenen Kreuzgang stößt anderseits der Schwurgerichtssaal.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 205-209.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gesammelte Gedichte
Die Leute von Seldwyla / Gesammelte Gedichte: BD 3
Sieben Legenden und Gesammelte Gedichte

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon