[607] Ev.: Von der Nächstenliebe.
»Gleich deiner eignen Seelen
Sollst du den Nächsten lieben!«
O Herr, was wird noch fehlen,
Bevor dein Wort erfüllt!
So muß denn all mein Denken
Mich rettungslos betrüben;
Wie sich die Augen lenken,
Steht nur der Torheit Bild.
Mein Herr, ich muß bekennen,
Daß wenn in tiefsten Gründen
Oft meine Sünden brennen,
Mich diese nie gequält.
So ist denn all den Flecken,
Die meine Brust entzünden,
Des Übermutes Schrecken
Noch tötend beigezählt!
Und hast du mich verlassen,
Mein rügendes Gewissen,
Weil ich dich wie zu hassen
In meinen Ängsten schien?
O schärfe deine Qualen!
Und laß mich ganz zerrissen,
Bedeckt mit blut'gen Malen,
Vor Gottes Augen glühn!
[607]
Sprich! wolltest du mich trügen?
Und kann der Heller Klingen
Dein feiles Wort besiegen?
Die ich der Armut bot.
O Gold, o schnöde Gabe!
Die alles soll erringen,
So trägst du mir zu Grabe
Mein Letztes in der Not!
Wie oft drang die Versteckte,
Die Sinnlichkeit, zu spenden,
Wenn mich ein Antlitz schreckte,
Vom Elend ganz verzerrt,
Und mußt' es bald entrinnen
Den arbeitlosen Händen,
Den ratlos irren Sinnen,
In Jammer ausgedörrt.
O Gold, o schnöde Gabe!
Wie wenig magst du frommen,
Magst läuten nur zu Grabe
Das letzte Gnadenwehn.
So hast du sondergleichen
Die Liebe mir genommen,
Daß ich kann lächelnd reichen,
Wo Gottes Kinder sehn.
Ihr Sinne, sprecht ihr scheuen,
Was habt ihr euch entzogen?
Muß euch nicht alles freuen?
Was mich nur freuen mag!
In flatterndem Verlangen
Habt ihr die Lust gesogen,
Indes die Not vergangen
An eurem Jubeltag!
So hab' ich deine Pfunde
In Frevelmut vergeudet,[608]
Und für der Armut Wunde
War mir ein Heller gut!
Das wird an mir noch zehren,
Wenn Leib und Seele scheidet,
Wird kämpfen, mir zu wehren
Den letzten Todesmut.
Ich müßte wohl verzagen,
Ich habe viel verbrochen,
Doch da du mich getragen,
Mein Gott, bis diesen Tag,
Wo meiner Seele Grauen
In fremder Kraft gebrochen,
Wie soll sie dem nicht trauen!
Der ihre Bande brach.
Buchempfehlung
Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«
52 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro